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Spurschaden

Spurschaden

Titel: Spurschaden
Autoren: Simon Halo
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dachte, wie er ihn in den frühen Morgenstunden so friedlich im Krankenhausbett liegend angetroffen hatte – im Tiefschlaf, die Hände und Arme verbunden, aber mit einem seltsam beruhigenden Lächeln im Gesicht, formte sich vor seinem inneren Auge ein türhoher, stinkender, dreckiger Eiswürfel. Hatte da jemand vielleicht einfach nur illegal Müll im Wald entsorgt? Nein, sein Vater hatte damit ganz sicher nichts zu tun. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Außerdem befand sich der Fund an einer mit dem Auto unerreichbaren Stelle. So hoch auf dem Berg gelegen, da standen Aufwand und Nutzen doch in keiner vernünftigen Relation zueinander.
    Ein Schmunzeln lag in Thomas’ Gesicht, als er aus dem Fenster schaute. Schnee; überall Schnee. Er liebte die kalte Jahreszeit, und er liebte die weiße Pracht. Hier in den abgelegenen Orten blieb der Schnee länger rein und weiß; nicht zu vergleichen mit dem in den Städten. Hier lagen keine Autoabgase in der Luft, keine unnatürlichen Gerüche, die aus unzähligen Industrieschornsteinen entwichen. Es war auch diese Ruhe der Natur, die ihn immer wieder zu seinem Vater lockte. Ausgerechnet dieses Wochenende hatten aber einige Schüler nachts in der Turnhalle gewütet, und ein Besuch war unmöglich gewesen.
    »Manchmal kommt einfach alles zusammen!«, fluchte der Kommissar, während er sich mit dem Fuß vom Fenstersims abstieß. Der Drehstuhl schwenkte daraufhin wieder an seine übliche Stellung – der Tür zugewandt.
    »Ich hatte laut geklopft«, entschuldigte sich der Polizist und starrte die noch vorhandenen Schweißtropfen auf der Stirn seines Chefs an. Dieser schaute kurz überrascht, tat dann aber so, als hätte er ihn kommen gehört, als hätte sein vorheriges Fluchen genau der Person ihm gegenüber gegolten.
    »Sie haben mir gerade noch gefehlt!«, stieß Thomas im ironischen Tonfall aus und ließ sein Gegenüber deutlich erkennen, dass er eigentlich froh war, ihn zu sehen.
    »Der Hubschrauber muss jeden Augenblick landen«, hörte er den jungen Kollegen sagen, während ihm endlich wieder dessen Vornamen einfiel: Sven. Gleichzeitig schaute er aus dem Fenster und registrierte erst jetzt, dass es nicht mehr schneite – kein Schneesturm, keine eingeschränkte Sicht; nur ein dumpfes Dröhnen lag in der Luft.
    »Ja … der Hubschrauber«, erwiderte Thomas und stand auf.

9
    Marie schreckte von ihrem Bett auf. Vor wenigen Minuten hatte sie sich darauf in voller Kleidung fallen lassen, hatte sich zuvor von den deutlich älteren Mitschwestern und dem sonstigen Personal abgesondert gehabt. Aufgefallen war das schon, aber es wurde nicht weiter thematisiert. Unter den Erwachsenen sprach man ihr seit Anbeginn die Rolle einer eher schüchternen Außenseiterin zu und schob es hauptsächlich auf das junge Alter; denn auch bei den Nicht-Ordensleuten gab es niemanden unter vierzig. Außerdem war ihr enger Kontakt zu den vermissten Zwillingen allgemein bekannt. Da wollte sie niemand in den ersten Stunden weiter verunsichern. Ihr körperlicher Zusammenbruch – kurz vor dem gemeinsamen Ausschwärmen beim Suchbeginn – war vielen noch als zusätzlicher Schockmoment in Erinnerung. Seltsam fand das niemand; das war echt gewesen, nicht gespielt. Man empfand tiefes Mitleid für sie.
    Jetzt war es das regelmäßig pulsierende Dröhnen, das Marie zum Fenster stürzen ließ. Es schneite nicht länger, und mitten im Klosterhof setzte ein Polizeihubschrauber zur Landung an, brachte die am Boden liegenden Schneemassen erneut in Bewegung. Fasziniert beobachtete Marie das Geschehen. Jedes noch so kleine Detail nahm sie wahr: die Vorhänge, die an etlichen Fenstern des Internats zurückgezogen wurden; die Typenbezeichnung des Fluggeräts sowie die Abgase der kräftigen Motoren, die die Luft zum Flimmern brachten. Sie lächelte leicht, als sie an die Kinder unten im Aufenthaltsraum dachte. »Was für ein außergewöhnliches Spektakel für alle Beteiligten!«
    Wäre der Anlass für Marie nicht so herzzerreißend gewesen, nichts hätte sie hier oben in ihrem Zimmer halten können. Warum? Weil sie seit ihrem Tandem-Fallschirmsprung vom Fliegen geträumt hatte, mit dem einen Ziel: eine Sportpiloten-Ausbildung speziell für Tragschrauber. Diese kleinen Drehflügler, rein äußerlich einem Hubschrauber ähnlich, besaßen eine deutlich einfachere Antriebstechnik und Mechanik. Zugelassen wurden sie als Ultraleichtflugzeug. Eine spezielle Ausbildung, die nur eine Lizenz für Tragschrauber beinhaltete,
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