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Spurschaden

Spurschaden

Titel: Spurschaden
Autoren: Simon Halo
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Blick wieder zu Marie gerichtet, stand er auf und gab höflich zu verstehen, dass er telefonieren müsse. Sie verabschiedeten sich erneut mit der Gewissheit, dass sie sich wieder sehen würden, dass sie sich wieder sehen wollten, und dass das längst nicht alles war.

8
    »Wie können Sie da nicht sicher sein? Tiere haben ein Fell, Menschen haben Haare! Da muss doch jemand von der Spurensuche relativ schnell erkennen können, was er vor sich hat?« Thomas umklammerte den schweren Telefonhörer und presste ihn fest an sein Ohr.
    »Eigentlich schon.« Die helle Stimme am Handy gegenüber klang rau, trocken, so als wäre dem Mund und Gaumenbereich jeglicher Speichel entzogen worden. Dann fuhr der Kollege am anderen Ende der Leitung fort:
    »Es ist ein gefrorener Klumpen in Würfelform. Ein Mischmasch aus Eis, Gewebefetzen, Knochensplittern und Blut; zumindest sieht es so aus.«
    »Und wenn es irgendwelche Essensreste sind, vermischt mit menschlicher Scheiße und so Zeugs? Etwas, was aus einer Flugzeugtoilette entsorgt wurde, vom Himmel fiel?« Thomas hörte ein tiefes Ausatmen auf der Gegenseite und dachte bereits »Was bekommen die heutzutage nur für eine Ausbildung«, als der Kollege besonders laut und betont erwiderte:
    »Eher nicht! Das verdammte Ding hat eine Kantenlänge von mindestens zwei Metern!« Ein kurzes Rauschen. »Das Teil ist riesig! Ich habe ein Foto an Ihr Handy geschickt!«
    Dieses Mal war es Thomas, der deutlich hörbar ausatmete. »O.K. Danke! Wir sehen uns später, sobald der Schneesturm ein Ende hat. Ich melde mich!« Thomas registrierte noch ein »Alles klar«, dann war die Leitung tot. In Gedanken rief er sich die gewaltigen Antennenmasten auf dem Klosterturm vor Augen; in Gedanken verfluchte er erneut seinen Handyprovider. Wirklich jeder schien hier Empfang zu haben; jeder außer ihm.
    Mit einem Stöhnen drückte Thomas seinen Rücken gegen das Sitzpolster. Den Kopf streckte er weit nach hinten, den Nacken an der oberen Sitzlehne anliegend. Weit öffnete er seinen Mund und atmete langsam tief ein und aus – dann schloss er die Augen.
    Es war genau diese für einen Außenstehenden seltsam ausschauende Haltung, die den jungen Kommissar in Zeiten höchster Anspannung schnellstmöglich entspannen ließ. Allein der Gedanke, dass jederzeit jemand die Tür öffnen und ihn in dieser peinlichen Position vorfinden könnte, sorgte für ein Lösen sämtlicher angestauter geistiger Blockaden. Ein Gefühl absoluter Freiheit durchströmte den Körper. Thomas rief sich in diesen Momenten bestimmte Best-of-Szenen seiner Lieblings-Fernsehserie bildlich ab. Diese sorgten auch jetzt wieder für ein breites Dauergrinsen in seinem Gesicht. Doch nur für kurze Zeit; heute war es anders. Das Gesicht von Marge – seiner Zeichentrick-Traumfrau mit der blauen Turmfrisur – formte sich plötzlich zu einer verschwommenen Fratze, und mit ihren Händen drückte sie erschreckend tief in ihren Bauch. Es folgten einige Bewegungen, wie sie Wunderheiler vollzogen, die behaupteten, ohne Messer und Skalpell tiefe innere Eingriffe vornehmen zu können, und dann hielt Marge ihrem Mann Homer ein lebloses, kleines gelbes Etwas vor die Augen.
    »Wie, du bist überrascht? Ich dachte, du wolltest keine Kinder mehr!«, fuhr sie ihn an.
    Homer stieß daraufhin stetig wiederholend einen Schrei aus, ähnlich dem aus der Folge, wo er in jungen Jahren ein Skelett im Abwasserkanal fand, und schon vermischte sich im Abspanntitel Homers Schreien mit dem Song über eine verlorene Liebe von den Herman’s Hermits: »No milk today!«
    Erschrocken erwachte Thomas aus dem Wachtraum. Dessen Intensität war ihm völlig neu und irritierte ihn. Unbewusst presste er mehrmals fest seine Augenlider zusammen, um die noch vorhandenen Restbilder wegzuspülen. Angst lähmte seine Glieder, steigerte sich panisch, als er für einen kurzen Moment glaubte, seine komisch gestreckte Sitzposition nicht mehr verändern zu können. Sekunden später saß er wieder so auf dem Stuhl, wie es für einen Menschen üblich war, und nur der Schweiß auf seiner Stirn hätte einen Außenstehenden vermuten lassen, dass da etwas nicht stimmte.
    »Verflucht. Was ist heute mit dir los?«, fragte sich Thomas. Für gewöhnlich behielt er doch immer souverän die Oberhand. Seit Stunden fühlte er sich hilflos, irgendwie verloren. Und dieser Schwächeanfall vorhin, die Situation unter dem Schreibtisch. »Schon peinlich«, sprach er leise vor sich hin.
    Während er an seinen Vater
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