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Spurschaden

Spurschaden

Titel: Spurschaden
Autoren: Simon Halo
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Zeitschrift, von ihrem Wunsch an die Zwillinge, diesen ganz bestimmten Artikel auch mal lesen zu können.
    Thomas hörte gespannt zu. Immer wieder nickte er mit dem Kopf. »Das könnte wirklich ein Motiv für den nächtlichen Spaziergang der Schwestern sein.« Er nickte erneut. »Aber es erklärt nicht, warum wir die beiden bisher nicht finden konnten. Diese Zeitschrift war – wenn überhaupt – ja sicher in unmittelbarer Umgebung des Klosters versteckt. Selbst wenn sich eine der beiden verletzt hätte …«, er hielt kurz inne, »dann hätte doch die andere Hilfe holen können. Nein! Da muss noch eine andere Komponente im Spiel sein. Wenn nur dieser erneute Schneefall nicht alle Spuren überdecken würde.«
    Die Novizin schwieg, schaute dem Kommissar weiterhin starr in die Augen. Und dann wurde ihm plötzlich klar, was sein Gegenüber wissen wollte, glaubte deutlich zu erkennen, welche Antwort von ihm erwartet, nein, erhofft wurde. Empathie, das war seine Stärke – Einfühlungsvermögen. Es gelang ihm seit frühen Kindestagen an, sich besonders gut in die Lage und Gefühle anderer Menschen hineinzuversetzen; die Welt durch die Augen seines Gegenübers wahrzunehmen. Eine Fähigkeit, die bei vielen vorhanden war, aber der die Wenigsten eine Chance auf Entfaltung einräumten. Und so erhob sich Thomas vom edlen Stuhl, wie ein König, den es nicht länger auf seinem Thron festhielt, trat hinter dem protzigen Schreibtisch hervor, rückte den zweiten, nicht weit von der Novizin stehenden Stuhl zurecht und setzte sich sehr nahe an die junge Frau mit dem weißen Schleier heran.
    »Ich habe Sie vorhin angelogen!«, sagte er entschieden mit der kräftigen Stimme eines Mannes. »Ich habe Ihnen vorhin das gesagt, was die meisten Menschen hören wollen und was für viele das Passende ist, da sie nur diese Antwort verstehen wollen.«
    Marie schaute ihn erstaunt an.
    »Ja, Sie trifft eine Mitschuld an dieser Situation. Genau so wie die alte Dame, die vor etwas mehr als einem Jahr in größter Langsamkeit über den Zebrastreifen wanderte – was natürlich ihr gutes Recht war – und mich dadurch genau die entscheidenden Sekunden aufgehalten hat, damit ich wenig später die Frau an der Supermarktkasse treffen konnte, mit der ich anschließend so eine wundervolle Zeit verbracht habe.« Marie hörte den Kommissar deutlich schlucken, dann fuhr dieser, ohne Luft zu holen fort. »Die Frau an meiner Seite, die mir vor einigen Tagen erklärt hat, dass sie unser gemeinsames Kind – von dem ich bis dahin nichts wusste – abgetrieben hat. Dass sie ein Recht darauf gehabt hätte als Frau, und dass sie einfach noch zu jung wäre, für ein Kind die Verantwortung zu tragen.«
    Thomas Schlunds Stimme zitterte. »Verstehen Sie, was ich damit sagen will? Verstehen Sie, warum die alte Dame am Zebrastreifen schuld ist, dass mein Kind bewusst getötet wurde und momentan noch eine Frau in meinem Bett schläft, die ich nicht mehr lieben kann? Warum diese Schuld jeder Mensch in jeder verdammten Sekunde seines Lebens auch durch sein unbewusstes Handeln auf sich legt und die dennoch keine Schuld ist, derer man sich schämen muss, weil genau sie das Leben ausmacht – diese Schuld, die allein durch unsere erbärmliche Existenz entsteht!«
    Thomas holte mehrmals tief Luft und war sich sicher, dass seine Worte Wirkung zeigten. Das leichte Nicken der Novizin schien das jedenfalls zu bestätigen. Hinzu kam ihr »Danke! Danke für die ehrlichen Worte! Danke für Ihre Hilfe!«.
    Was Thomas bei all seiner Menschenkenntnis allerdings nicht wissen konnte, war, dass Marie in ihrer Fähigkeit, Empathie zu empfinden, ihm mindestens ebenbürtig war, und dass sie ihn deshalb soeben bewusst irregeleitet hatte – denn eine wirkliche Hilfe waren seine Worte nicht gewesen. Gut gemeint, teils nachvollziehbar, liebevoll, tief bewegend, ja, aber keine echte Hilfe. Denn der Kommissar hatte bei seinen Erklärungsversuchen eine für Marie ganz entscheidende Komponente vergessen: den Teufel. Dessen Existenz, dessen Einflussnahme in menschliches Handeln stand für sie zweifellos fest, war er doch damals Fleisch geworden, tief in sie eingedrungen und hatte sie so stark bluten lassen.
    »Ich werde das mit der Zeitschrift an meine Kollegen weiterleiten, und das unbewohnte Gebäude gegenüber wird natürlich auch nochmals gründlich untersucht.« Thomas’ Stirn zeigte starke Faltenbildung, während er aus dem Fenster schaute. »Oh Mann, es kann doch nicht immer schneien!«
    Den
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