Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Splitterherz

Titel: Splitterherz
Autoren: Bettina Belitz
Vom Netzwerk:
fährt?«, rief ich. Ich wollte raus aus allem - aus dieser Situation, aus dieser »Stadt« und am liebsten auch aus meiner eigenen Haut. Noch dazu be­schlich mich erneut das beklemmende Gefühl, von allen Seiten be­obachtet und durchleuchtet zu werden, obwohl der Fahrer mit dem Rücken zu mir saß. Es gelang mir kaum, meine Augen scharf zu stellen. Schweiß prickelte mir im Nacken.
    Die Stiefelspitze stockte. Ich setzte zum Sprechen an, doch meine Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern. Hilflos sah ich dabei zu, wie die Stiefelspitze wieder ins Wageninnere verschwand, eine Hand die Tür zuschlug und der Wagen mit dröhnendem Motor startete. Kleine spitze Steinchen schlugen gegen meine Unterschenkel und eine stinkende Wolke aus Staub, Öl und Benzin stieg mir in die Nase.
    »Idiot!«, rief ich hustend und beherrschte mich mühsam, dem Fahrer nicht den Mittelfinger zu zeigen. Schließlich tat ich es doch - als das Auto um die Kurve gefahren war und der unhöfliche Mensch im Wageninneren mich garantiert nicht mehr sehen konnte. Statt­dessen sah mich jemand anderes.
    »Elisabeth - was in Gottes Namen tust du da?« Verwirrt drehte ich mich um. Ich hatte unseren Kombi nicht heranfahren hören. Papa lehnte lässig auf der heruntergekurbelten Scheibe des Wagen­fensters und blickte mich fragend an.
    »Ähm. Ich - ich warte auf den Bus, aber der kommt nicht, und da wollte ich ...«, stotterte ich betreten.
    »Der Bus?« Papa blinzelte mich zweifelnd an. »Elisa, es ist halb vier, um diese Uhrzeit fährt kein Schulbus.«
    Halb vier? Ich zog den Ärmel meines verschwitzten Pullis hoch, um ihm das Gegenteil zu beweisen. Doch es war halb vier. Und ich hatte um Viertel nach eins Unterrichtsschluss gehabt. Nun verstand ich gar nichts mehr. War ich hier eingeschlafen - so fest, dass ich den Bus nicht gehört hatte?
    »Steig schon ein«, forderte Papa mich ungeduldig auf. Hinter ihm bildete sich bereits ein kleiner Stau. Auf einmal war Leben auf der Straße und ortseinwärts konnte ich mehrere Menschen sehen, be­packt mit Einkaufstüten und Taschen. Vom Supermarkt drang das Scheppern der Einkaufswagen herüber. Benommen umrundete ich den Kombi und stieß mir schmerzhaft den Kopf, als ich einstieg. Im Wageninneren lief kaum hörbar Pink Floyd und die Klimaanlage pustete mir kühlend über mein klebriges Gesicht.
    »Ich muss eingeschlafen sein«, sagte ich matt. »Ich hab schlecht geträumt heute Nacht«, versuchte ich meine geistigen Ausfälle zu erklären - und in derselben Sekunde, in der ich diese spontane Aus­rede aussprach, kam mir alles wieder in den Sinn. Es war keine Aus­rede. Ich hatte wirklich einen bösen Traum gehabt. Nun, eigentlich war er nicht böse gewesen. Eher seltsam. Und jetzt waren seine Bil­der derart nah, dass ich glaubte, sie greifen zu können - so plastisch und deutlich schwebten sie vor mir.
    »Was hast du denn geträumt?«, fragte Papa neugierig. Träume waren sein Steckenpferd. Wer zu ihm in Therapie kam, musste Traumtagebuch führen, ob er nun wollte oder nicht. »Du weißt doch, was man sagt: Die Träume in der ersten Nacht in einem neuen Zuhause werden wahr«, fügte er schmunzelnd hinzu.
    »Ich hab von einem Baby geträumt«, antwortete ich gedankenlos.
    »Prost Mahlzeit«, sagte Papa trocken und warf mir einen prüfen­den Seitenblick zu - halb belustigt, halb argwöhnisch. »Damit lass dir noch ein bisschen Zeit, okay?«
    »Ich hab nicht gesagt, dass es mein Baby war«, erwiderte ich has­tig und beschloss, dass der Rest des Traumes allein mir gehören würde. Genau wie meine Erinnerung an diese vier langen, grüb­lerischen Wochen vergangenen November, als ich tatsächlich fürchtete, schwanger zu sein. Das sollte Papa niemals erfahren.
    Doch der war mit seinen Gedanken schon längst wieder bei der Wissenschaft. Unbekümmert fachsimpelte er, dass alle Mädchen und Frauen im Laufe ihres Lebens von Babys träumten. Und meis­tens wäre in diesen Träumen der Kindsvater völlig unwichtig oder nicht einmal präsent - was für ihn der Beleg dafür sei, wie wenig der Kinderwunsch eigentlich von dem passenden Mann abhängig sei, sondern ein Urbedürfnis jeder Frau. Und so weiter und so fort.
    Aber ich hörte nicht richtig zu. Mein Traum nahm meine Gedan­ken vollkommen in Beschlag. Ich schloss die Augen und versuchte, mich zurück ins Traumgeschehen zu befördern - denn ich verspür­te ein merkwürdiges Verlangen, dort einzutauchen, wo ich auf­gewacht war. Als gäbe es noch etwas für mich zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher