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Spin

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Titel: Spin
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hab letzte Nacht nicht geschlafen. Hab Angst gehabt, ich könnte was verpassen. Manchmal beneide ich meine Schwester. Weck mich, wenn jemand die Sache aufgeklärt hat.«
    Ich begehrte sofort auf gegen diese, wie ich fand, abschätzige Bemerkung über Diane. »Sie hat auch nicht geschlafen.«
    »Ach? Tatsächlich? Und woher willst du das wissen?«
    Ertappt. »Wir haben ein bisschen am Telefon geredet…«
    »Sie hat dich angerufen?«
    »Ja, kurz vor Sonnenaufgang.«
    »Herrgott, Tyler, du wirst ja ganz rot.«
    »Gar nicht wahr.«
    »O doch.«
    Ein schroffes Klopfen an der Tür erlöste mich: E. D. Lawton, der aussah, als habe er auch nicht viel Schlaf gekriegt.
    Jasons Vater war eine einschüchternde Erscheinung. Er war groß, breitschultrig, schwer zufrieden zu stellen, leicht zu verärgern. An den Wochenenden fegte er durch das Haus wie eine Sturmfront, Blitz und Donner verbreitend. (Meine Mutter hatte einmal gesagt: »E. D. gehört nicht zu den Personen, deren Aufmerksamkeit man zu erregen wünscht. Ich habe nie verstanden, warum Carol ihn geheiratet hat.«) Er war nicht gerade der klassische Selfmade-Geschäftsmann – sein Großvater, Gründer einer sagenhaft erfolgreichen Anwaltskanzlei in San Francisco, hatte die meisten von E. D.s frühen Projekten vorfinanziert –, aber es war ihm gelungen, sich ein lukratives Geschäft mit Höheninstrumenten und Leichter-als-Luft-Technologie aufzubauen, und das alles auf die harte Tour, ohne direkte Beziehungen zur Industrie, jedenfalls am Anfang.
    Er betrat Jasons Zimmer mit mürrischem Gesicht, sah mich kurz an, seine Augen blitzten. »Tut mir Leid, Tyler, aber du wirst jetzt nach Hause gehen müssen. Ich habe einiges mit Jason zu besprechen.«
    Jase protestierte nicht, und ich war meinerseits nicht übermäßig scharf darauf zu bleiben. Also schlüpfte ich in meine Stoffjacke und verschwand durch die Hintertür nach draußen. Den Rest des Nachmittags verbrachte ich am Bach, warf Steine und beobachtete die Eichhörnchen, wie sie für den nahenden Winter vorsorgten.
     
    Die Sonne, der Mond und die Sterne.
    In den folgenden Jahren wuchsen Kinder auf, die niemals den Mond mit eigenen Augen gesehen hatten; Menschen, die nur fünf oder sechs Jahre jünger waren als ich, kannten die Sterne praktisch nur aus alten Filmen und einer Hand voll immer falscher werdender Klischees. Einmal, ich war etwa Mitte dreißig, spielte ich einer jüngeren Frau den Song »Corcovado« von Antonio Carlos Jobim vor – die Version mit Gesang: »Quiet nights of quiet stars« –, und sie fragte mich, ehrlich verblüfft: »Waren die Sterne denn laut?«
    Aber wir hatten noch etwas verloren, etwas, das nicht so offensichtlich war wie die paar Lichter am Himmel – ein verlässliches Gefühl der Verortung. Die Erde ist rund, der Mond umkreist die Erde, die Erde umkreist die Sonne: das war alles an Kosmologie, was die meisten Leute kannten oder kennen wollten, und ich bezweifle, dass auch nur einer von hundert nach Abschluss der High School noch groß darüber nachdachte. Aber sie waren doch vor den Kopf gestoßen, als ihnen diese bescheidene Sicherheit weggenommen wurde.
    Eine offizielle Erklärung zur Sonne erhielten wir erst in der zweiten Woche nach dem Oktober-Ereignis.
    Die Sonne schien sich auf ihre angestammte Weise zu bewegen. Sie ging auf und unter, wie es den Ephemeriden entsprach, die Tage wurden in natürlicher Präzession kürzer; es gab nichts, was auf einen solaren Notstand schließen ließ. Vieles auf unserem Planeten, auch das Leben selbst, hängt von Beschaffenheit und Menge der die Erdoberfläche erreichenden Sonnenstrahlung ab, und daran hatte sich offenbar nichts geändert – was wir mit bloßem Auge von der Sonne sehen konnten, deutete auf denselben gelben Stern der G-Klasse hin, zu dem wir unser ganzes Leben lang hinaufgeblinzelt hatten.
    Was ihm allerdings fehlte, das waren Sonnenflecken, Protuberanzen, Reflexlichter.
    Die Sonne ist ein unruhiges Ding, stürmisch, gewalttätig. Sie kocht, sie brodelt, sie schäumt über mit gewaltigen Energien; sie badet das Sonnensystem in einem Strom aufgeladener Partikel, die uns töten würden, wären wir nicht durch das Magnetfeld der Erde geschützt. Aber seit dem Oktober-Ereignis, so verkündeten die Astronomen, war die Sonne eine geometrisch vollkommene Kugel von stetig gleicher und makelloser Helligkeit. Und aus dem Norden kam die Nachricht, dass die Aurora borealis, die Nordlichter – Produkt des Zusammentreffens unseres
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