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Spillover

Spillover

Titel: Spillover
Autoren: David Quammen
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Tierarzt an. Peter Reid, ein hochgewachsener Mann, nüchtern und professionell, kam und sah sich die Stute an. Sie stand jetzt im Stall, einem Betonziegelbau mit Sandboden, in einer eigenen Box zwischen Rails anderen Pferden. Dr. Reid konnte weder einen Ausfluss aus Nase oder Augen noch Anzeichen für Schmerzen entdecken, aber die Stute schien nur noch ein fahles Abbild ihres früheren Wesens zu sein. »Allgemeiner Schwächezustand« lautete seine Diagnose. Körpertemperatur und Puls waren hoch. Reid bemerkte die Schwellungen im Gesicht. Als er ihr Maul öffnete und das Zahnfleisch untersuchte, fand er Reste der geriebenen Möhren, die sie nicht schlucken mochte oder konnte. Er spritzte ihr ein Antibiotikum und ein Schmerzmittel. Dann ging er nach Hause. Kurz nach vier Uhr am nächsten Morgen bekam er einen Anruf. Drama Series war auf dem Hof zusammengebrochen. Jetzt lag sie im Sterben.
    Reid fuhr in aller Eile zu den Ställen, aber als er ankam, war die Stute schon tot. Es war schnell gegangen und unschön gewesen. Als ihr Zustand sich verschlechterte, war sie unruhig geworden; sie war durch die offene Stalltür nach draußen getaumelt und mehrmals gestürzt, hatte sich das Bein bis auf den Knochen aufgeschürft, war wieder aufgestanden, auf dem vorderen Hof erneut gestürzt und dann zu ihrer eigenen Sicherheit von einem Pferdepfleger am Boden fixiert worden. In ihrer Verzweiflung hatte sie sich losgerissen und war in einen Stapel Backsteine gekracht, dann hatten der Pfleger und Rail sie gemeinsam erneut am Boden festgehalten. Unmittelbar bevor sie starb, hatte Rail ihr noch einen schaumigen Ausfluss von den Nüstern gewischt, damit sie besser atmen konnte. Reid sah sich das tote Tier an und bemerkte immer noch Spuren eines klaren Schaumes an den Nüstern; eine Autopsie nahm er aber nicht vor – Vic Rail konnte es sich nicht leisten, so neugierig zu sein, und im Übrigen rechnete niemand mit einer medizinischen Krisensituation, in der alle noch so nebensächlichen Daten von entscheidender Bedeutung sein konnten. Der Kadaver von Drama Series wurde ohne viel Federlesens vom Vertragsabdecker abgeholt und dorthin gebracht, wo tote Pferde in Brisbane normalerweise entsorgt werden.
    Die Todesursache blieb ungewiss. War sie von einer Schlange gebissen worden? Hatte sie auf der Weide giftige Pflanzen gefressen? Solche Hypothesen lösten sich schlagartig in Luft auf, als 13 Tage später auch ihre Stallgenossen erkrankten. Sie fielen um wie Dominosteine. Das war weder ein Schlangenbiss noch Pflanzengift. Das war ansteckend.
    Die anderen Pferde litten an Fieber, Atembeschwerden, Krämpfen; manchen quoll blutiger Schaum aus Nüstern und Maul; einige hatten Schwellungen im Gesicht. Reid beobachtete, wie ein Pferd sich hektisch die Nüstern in einem Wassereimer abspülte. Ein anderes schlug immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand, als wäre es geistesgestört. Trotz heldenhafter Anstrengungen von Reid und anderen starben während der nächsten Tage zwölf weitere Tiere. Später sagte Reid: »Es war einfach unglaublich, mit welcher Geschwindigkeit es sich unter den Pferden ausbreitete«, aber was »es« war, wusste in diesem frühen Stadium noch niemand. Etwas verbreitete sich unter den Pferden. Auf dem Höhepunkt der Krise erlagen innerhalb von nur zwölf Stunden sieben Tiere ihren Qualen oder mussten eingeschläfert werden. Das ist selbst für einen abgebrühten Tierarzt der reine Horror.
    Was war die Ursache der Katastrophe? Wie breitete sich die Krankheit von einem Pferd zum anderen aus, oder wie konnte sie so viele Tiere gleichzeitig befallen? Eine Verunreinigung des Futters vielleicht? Oder ein Gift, das jemand in böser Absicht untergemischt hatte? Reid fragte sich aber auch, ob möglicherweise ein exotisches Virus am Werk war, ähnlich dem Erreger der Afrikanischen Pferdepest (African Horse Sickness, AHS ), die im mittleren und südlichen Afrika von Stechmücken übertragen wird. Das AHS -Virus befällt nicht nur Pferde, sondern auch Maultiere, Esel und Zebras; in Australien kannte man es aber bis dahin nicht, und es wird auch nicht unmittelbar von Pferd zu Pferd übertragen. Außerdem stechen krankheitsübertragende Mücken in Queensland in der Regel nicht im September, wenn kühles Wetter herrscht. AHS passte also nicht ganz. Dann vielleicht ein anderer ungewöhnlicher Erreger? »Ein Virus, das so etwas macht, hatte ich zuvor noch nie gesehen«, sagte Reid. Als Mann, der eher zu Untertreibungen neigt, sprach er von
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