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Spiel des Lebens 1

Spiel des Lebens 1

Titel: Spiel des Lebens 1
Autoren: Etzold Veit
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der in den Wolken rauschte, wurde lauter und lauter, bis der Gang vibrierte, die Wasseroberfläche zitterte und die Ratten quiekend untertauchten. Dann war es vorbei, der Spuk war zu Ende – und die District Line hatte, fünf Meter über ihm, von Westen kommend die Station Aldgate East durchfahren.
    Seine Finger spielten an dem Ring, als würde er ihn wie einen Talisman in der Dunkelheit beschützen. Nach etwa hundert Metern öffnete sich vor ihm ein riesiges Gewölbe. Tiefe Pfützen mit brackigem Wasser reflektierten das bläuliche Deckenlicht, und abgebrochene Äste und Sträucher ragten aus dem Wasser heraus wie Arme von Ertrinkenden.
    Jetzt konnte er sie sehen. Die Bewohner dieser Unterwelt. Die existierten, aber die niemand wahrnahm. Die es gab, und die es doch nicht gab. Die Flaschen sammelten und bettelten, die Mülleimer durchwühlten und morgens mit ihren Decken von den warmen Lüftungsschächten vertrieben wurden, die in den Vorräumen von Banken schliefen und die man beiseiteschob, wenn sie genau vor einem Geldautomaten lagen. Es waren die, die ebenfalls unsichtbar waren, genauso unsichtbar wie die ganz Reichen, die am anderen Ende der Skala standen und die auch niemand sah.
    Es waren die, die man in London die »Squatter« oder den »Under City Scum« nannte, und sie hatten hier ihr Quartier bezogen. Eine Frau, die röchelnde Geräusche von sich gab, lag auf einer speckigen Matratze. Er ging zu ihr, gab ihr eine Tüte mit Medikamenten, die er zuvor besorgt hatte. »Wenn es nicht besser wird, gehst du zum Arzt, ich zahle es dir!« Sie nickte dankbar.
    Er lief weiter.
    Einige Meter entfernt brannte ein Feuer. Drei Männer davor, die Zähne genauso schwarz wie ihre Fingernägel. Irgendetwas briet an einem Spieß über dem Feuer, und erst als er das abgezogene, blutige Fell sah, das am Boden lag, wusste er, dass es Ratten waren. Er gab jedem der drei einige der Scheine. »Kauft euch mal was Vernünftiges«, sagte er, obwohl ihm klar war, dass sie es nicht tun würden.
    Einer der beiden mit besonders verfaulten Zähnen lachte, hob eine Flasche mit Gin und prostete ihm zu. Es war klar, was er damit sagen wollte. Essen war nicht das Problem.
    Er steckte den Rest des Geldes ein, holte eine Glocke aus der Tasche und läutete. Alle setzten sich aufrecht hin, auch die Frau auf der Matratze erhob sich, die drei am Feuer vergaßen ihre Ratte, aus den Winkeln der Höhle kamen weitere Schatten, die sich gebeugt und humpelnd näherten. Drei Menschen, vier, schließlich ein Dutzend, dann zwanzig, dann dreißig, bis die Höhle voll war.
    »Ich möchte, dass ihr euch dieses Bild gut einprägt«, sagte er. Er öffnete einen Koffer, in dem sich ein Laptop und ein Beamer befanden, daneben eine Autobatterie. Er fuhr den Laptop hoch und zog einen Speicherstick aus einer Digitalkamera, den er in den Laptop steckte. Nach einem kurzen Summen erstrahlte der Beamer und warf ein grelles, schneidendes Licht an die zehn Meter entfernte, schimmelige und von pelzigem Moos bewachsene Wand.
    Dann war das Foto zu sehen, und es verfehlte seine Wirkung nicht. Es bannte den Blick der von Alkohol und feucht-kalter Kanalluft geröteten Augen und ließ die bläulich schimmernde Höhle in einem Licht erstrahlen, das aus einer anderen Welt kam.
    »Ab heute«, sagte er, »werdet ihr sie nicht mehr aus den Augen lassen. Ihr werdet mir sagen, wo sie ist, und was sie tut, vierundzwanzig Stunden am Tag. Ihr werdet euch aufteilen und es genau so tun, wie ich es euch sage.« Er hob die Stimme. »Habt ihr mich verstanden?«
    »Haben wir.« Die Stimmen waren undeutlich, verwischt, aber er wusste, dass die Botschaft angekommen war.
    Er blickte zu der Wand hinüber und lächelte.
    Das Bild zeigte eine junge Frau mit rotblonden Haaren und weit aufgerissenen blaugrünen Augen, Augen, die schon jeden Betrachter in ihren Bann gezogen hatten, selbst die der unterirdischen unheimlichen Horde vor ihm.
    Augen, die zu einer jungen Frau gehörten, die vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahre alt war.
    Es war eine junge Frau, die vor einem Postfach in einem Gang in einem alten Gebäude stand und auf einen Luftballon starrte.
    Der Gang gehörte zur Englischen Fakultät des King’s College London.
    Und es war das Bild von Emily Waters.

7
    TAG 2: 2. September 2011
    E s war Freitagvormittag, und Emily saß in einem der kleineren Hörsäle, wo sie versuchte, sich auf ihre Vorlesung zu konzentrieren. Richtig bei der Sache war sie aber nicht. Noch immer musste sie an die
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