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Spiel des Lebens 1

Spiel des Lebens 1

Titel: Spiel des Lebens 1
Autoren: Etzold Veit
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seltsame Nachricht von gestern denken. Daran hatte auch nichts geändert, dass Ryan am Abend in der Gemeinschaftsküche im Wohnheim für Julia und Emily gekocht hatte. Es hatte nicht sonderlich gut geschmeckt, aber es war ein sehr netter Abend gewesen. Ryan hatte es geschafft, mit seinen Scherzen die Ereignisse des Tages fast zu verdrängen – bis Emily dann wieder allein im Bett lag und die Erinnerung daran sie mit unbarmherziger Wucht getroffen hatte.
    Die Nachricht selbst war schon unheimlich genug gewesen.
    Du hast mir mein Leben gestohlen. Und ich hole es mir zurück.
    Aber das war nicht alles gewesen. Als sie sich etwas von ihrem Schock erholt hatte, hatte sie die schwarze Farbe in Teilen von dem Bild gekratzt, und was dahinter war, hatte sie fast noch mehr schockiert. Es zeigte die Sternennacht von Vincent van Gogh, dieses seltsame Bild, in dem die Sterne grell wie Sonnen waren, und die Lichter und Sternschnuppen luftschlangengleich am Himmel umherirrten. Sie war zusammengezuckt, als sie die Farbe von dem Bild entfernt hatte, denn das Bild hatte sie noch einmal, wie schon zuvor die Leuchtfarbe, an die zwei Augen erinnert, die sie die Nacht zuvor gesehen hatte. Die zwei Augen, die plötzlich verschwunden waren und eine ratlose Emily zurückgelassen hatten, die nicht mehr wusste, ob sie es gewesen war, die vor dem Einschlafen das Fenster geöffnet hatte, oder … oder jemand anderes.
    Irgendetwas regte sich tief in ihr, wenn sie dieses Bild sah, ohne dass sie ergründen konnte, was es war. Wann immer sie es versuchte, verschwand auch der letzte Zipfel, an dem sie die Erinnerung festhalten konnte, wie ein scheues Tier, das sofort flieht, sobald es sich beobachtet fühlt. Sie hatte mit Julia und Ryan über den seltsamen Luftballon und die unheimliche Nachricht in ihrem Postfach gesprochen, und sie hatte wirklich gehofft, dass sich das Ganze als dummer Scherz der beiden entpuppen würde, auch wenn irgendeine Stimme in ihrem Inneren ihr schon gesagt hatte, dass es das nicht war. Julia hatte erst geglaubt, Emily wolle sie auf den Arm nehmen, und Ryan hatte erwidert, dass es gewisse Dinge gab, mit denen man keine Scherze macht – und eine solche Drohung, denn das war es doch, gehörte eindeutig dazu.
    Professor Stokes stand an der Tafel und redete über klassische Sagen und deren Einfluss auf die englische Literatur. Richard Stokes kam eigentlich aus Oxford und war Experte für Kunstgeschichte, Dichtung und Literatur der Antike und der Renaissance. Mit seiner goldgeränderten Brille, dem kurz gestutzten grauen Bart, seinem Tweed-Jackett und seiner Pfeife, die Emily ihn zwischen zwei Vorlesungen auf der Dachterrasse heute Morgen hatte rauchen sehen, entsprach er fast vollständig dem Bild des typischen, etwas zerstreuten Professors, wäre da nicht der zuweilen diabolische Blick in seinen Augen, besonders wenn er über die Rolle des Bösen, die Dämonen oder den Teufel sprach.
    Gerade hatte er mit einem Beamer ein Bild von einem Renaissancemaler an die Wand geworfen, das den Höllensturz der Verdammten zeigte. Stokes erzählte von einem Anschlag auf das Bild in München, doch Emily hörte nur mit halbem Ohr zu.
    »… ein Wahnsinniger kam mit dem Inhalt nicht klar … hat es mit Säure begossen … wurde festgenommen … geistesgestört …«
    Geistesgestört, dachte Emily. Hatte sie es auch mit einem Geistesgestörten zu tun, war der Typ, der den Luftballon an ihr Postfach gehängt hatte, ein Verrückter, ein Psychopath oder … ein Stalker?
    Oder nahm sie die Sache einfach viel zu ernst? Wenn es jemanden wie Julia getroffen hätte – sie hätte die ganze Geschichte vermutlich mit einem Scherz abgetan und hätte nicht weiter darüber nachgedacht. Emily wünschte sich oft, so locker wie ihre Freundin zu sein. Aber so sehr sie sich auch bemühte, sie schaffte es einfach nicht. Während andere scheinbar ohne Sorgen durchs Leben schritten, machte sie sich über alles und jeden Gedanken. Das war schon immer so gewesen. Zumindest soweit sie sich erinnern konnte.
    Andererseits – sie hatte mit William Kenny, dem Dekan, gesprochen, und er hatte gleich gefragt, ob sie die Polizei einschalten wollte. »Wir nehmen die Sache sehr ernst«, hatte er gesagt, »doch manchmal kann man solche Spinner am besten bestrafen, wenn man sie gar nicht erst beachtet. Und ihretwegen die Polizei einzuschalten, gilt für die sozusagen als Ritterschlag der Beachtung.« Kenny hatte sich von seinem Schreibtischstuhl vor seinem mit Tausenden von
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