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Spektrum

Spektrum

Titel: Spektrum
Autoren: Sergej Lukianenko
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Schließer. »Die größte Stadt auf Schlund. Dort leben dreitausend Menschen und fast zehntausend Nichtmenschen. Die Stadt liegt am Ufer eines kleinen Meers, die Bewohner sammeln Algen. Ein aus ihnen gewonnener Sud wird auf vielen Welten geschätzt, denn er verlängert das Leben und schärft das Wahrnehmungsvermögen. In der Stadt trinken alle diesen Aufguss, vom Bürgermeister bis zum Ärmsten der Armen, doch in anderen Welten können ihn sich nur die Reichen und Mächtigen leisten. Das ist meine Geschichte, möge sie deine Trauer vertreiben.«
    »Ich danke dir, Schließer«, sagte Martin und ging zur Tür. Bevor er ins Haus trat, wandte er sich, seiner Neugier unterliegend, noch einmal um. Nach wie vor wippte der Schließer in seinem Schaukelstuhl. Ein kurzer dreieckiger Schwanz lugte aus einem in die Lehne geschnittenen Loch heraus.
    Letzten Endes gehörten die Schließer eben doch zu den Reptilien. Mochten sie auch mit Fell bewachsen, mochten sie einem Affen noch so ähnlich sein.
    Die Gänge der Station hüllten ihn in Wärme und Stille. Auf dem steinernen Fußboden lagen dicke Bastmatten, gegossene Bronzeleuchter spendeten ein seltsames, ein beunruhigendes Licht, dessen Spektrum nicht nur auf Menschen zugeschnitten war. Martin stieg in den ersten Stock hinauf und betrat eines der »Menschenzimmer«, das, wiewohl mit allzu wuchtigen Möbeln und verdächtig niedrigen Stühlen ausgestattet, recht gemütlich wirkte. Das Bad überraschte mit Luxus, einer tiefen runden Wanne und – in einer kleinen Kabine untergebracht – einer Art türkischer Sauna. Selbstredend diente all das nicht dem Vergnügen der Menschen; für irgendeine von den humanoiden Rassen waren Prozeduren mit warmem Wasser schlicht lebensnotwendig.
    Und die Schließer kamen ihren Pflichten stets tadellos nach.
    Martin zog sich aus, ließ Wasser in die Wanne, duschte sich und betrat die Saunakabine. In der Steinwand knatterte der Heizer, hinter der transparenten Tür schäumte das heiße Wasser, das sich in die Wanne ergoss. Mit auf die Brust herabgesunkenem Kopf saß Martin da, schloss die Augen und ließ seinen ganzen Körper nach und nach die Wärme aufsaugen. Der vermaledeite Regen hatte ihn stärker mitgenommen, als Martin zunächst vermutet hatte.
    Wie lange er hier wohl hätte frische Kräfte schöpfen dürfen, wenn der Schließer keinen Gefallen an seiner Geschichte gefunden hätte?
    Einen Tag? Zwei?
    Irgendwann würde ihn sein Glück im Stich lassen. Dann würde ihn der betreffende Schließer, in seinem Schaukelstuhl wippend oder sich auf einer Bastmatte rekelnd, ein ums andere Mal bescheiden: »Einsam ist es hier und traurig, Wanderer.« Was die Schließer leitete, was sie das Entgelt für die Benutzung der Großen Tore annehmen oder zurückweisen ließ, blieb nach wie vor ein Rätsel. Sicher wusste man einzig, dass sie Geschichten ablehnten, die schöngeistigen Büchern, Filmen oder allgemein zugänglichen historischen Dokumenten entstammten, wohingegen sie Geschichten, die dem Erzähler selbst widerfahren oder ihm mündlich zugetragen worden waren, gern akzeptierten. Keine Geschichte eignete sich indes, den Durchlass zweimal zu erkaufen, selbst an unterschiedlichen Toren nicht, tauschten die Schließer ihre Informationen doch unverzüglich oder zumindest nahezu unverzüglich aus. Man konnte auch keine Geschichte »auf Vorrat« erzählen, sondern lediglich dann, wenn man ein Tor passieren wollte. Erfolg versprachen zudem ausgedachte Geschichten, obgleich die Schließer in diesem Fall dazu neigten, in Fragen des Stils und des Inhalts besonders pingelig zu sein. Tragische oder romantische Geschichten gefielen ihnen ungleich besser als idyllische oder Naturschilderungen. Nicht schlecht fuhr man mit humoristischen Erzählungen oder Kriminalgeschichten, rätselhaften und mysteriösen Darbietungen. Fast immer griffen biographische Fragmente, wobei Menschen zumeist alles vortragen mussten, was sich – und sei es von noch so geringer Bedeutung – in ihrem eigenen Leben zugetragen hatte, damit der Schließer sich zufrieden zeigte. Eventuell tappte man damit aber auch in eine raffinierte Falle, die es jedem Menschen ermöglichte, eines der Großen Tore zu benutzen. Freilich nur ein einziges Mal.
    Welchen Preis hatte der Junge für den Durchlass entrichten können, der jetzt in fremder Erde zwanzig Kilometern vom Tor entfernt ruhte?
    Die Geschichte seiner ersten und letzten Liebe? Vermutlich.
    Martin wechselte von der Saunakabine in die Wanne
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