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Spektrum

Spektrum

Titel: Spektrum
Autoren: Sergej Lukianenko
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wollte nicht umkehren. Seine Reue war groß, größer indes war seine Furcht. Deshalb habe ich den Flüchtling umgebracht. Hier ist sein Jeton.«
    Martin holte einen durchscheinenden Jeton aus seiner Tasche, der an einer feinen Kette baumelte. Im Plastikrund schimmerte ein winziger Mikrochip.
    »Jetzt kehre ich nach Hause zurück, um den Verwandten der ermordeten Frau zu berichten, dass sie gerächt ist«, schloss Martin. »Die Behörden unserer Welt werde ich über den Vorfall nicht unterrichten. Das, was jenseits der Großen Tore geschehen ist, geht sie nichts an.«
    Der Schließer machte sich daran, seine Pfeife zu stopfen. Seine haarlosen Fingerspitzen zeigten dieselbe schimmernde schwarze Haut, wie sie auch Affen eignet. Man musste genau hinsehen, um zu erkennen, dass es sich hier nicht um Haut, sondern um winzige Schuppen handelte.
    »Einsam ist es hier und traurig«, brummte er. »Ich habe schon viele solche Geschichten gehört, Wanderer.«
    Martin schwieg kurz, um dann einen weiteren Jeton aus seiner Tasche zu kramen. »Ich bin der Fährte des Flüchtlings gefolgt«, fuhr er fort. »Diese Welt hat mich mit Regen empfangen, doch kein Schauer vermag alle Spuren zu tilgen. Insofern wusste ich, dass ich auf dem richtigen Weg war, als ich die Spur der ersten Rast fand. Später entdeckte ich von einer Hügelspitze aus Menschen. Zwei Menschen, der eine war hinter dem anderen zurück, aber im Begriff, ihn einzuholen. Da, wie ich erkannte, ihre Begegnung kein gutes Ende nehmen würde, sputete ich mich. Dennoch kam ich zu spät. Schon bald stieß ich direkt am Weg auf die Leiche eines jungen Mannes, ja, fast noch eines Kindes, der vielleicht sechzehn oder siebzehn Jahre gewesen sein mochte. Der Flüchtling hatte ihn nahe genug an sich herankommen lassen – und ihn dann erschossen.«
    »Weshalb das?«, wollte der Schließer wissen. »Hat er Gefallen am Töten gefunden?«
    »Nein. Die Angst hat den Flüchtenden dazu gebracht, den Abzug zu drücken. Er hat mit einer Verfolgung gerechnet, hat befürchtet, ein Jäger habe seine Spur aufgenommen. Deswegen hat er gar nicht versucht herauszubekommen, was der andere wollte. Nicht einmal gefragt hat er sich, ob ein solcher Grünschnabel überhaupt schon ein Jäger sein könne. Rache ist unfruchtbar, Schließer, Rache lässt die Toten nicht aus dem Grab steigen und beschert der Welt nichts Gutes. Anfangs hegte ich bestimmt nicht die Absicht, den Flüchtling zu töten. Doch dann stand ich neben der Leiche dieses Jungen, der das Große Tor durchschritten und seinen Tod unter einem fremden Himmel in einem fremden Regen gefunden hatte. Was hatte er fern der Erde gesucht? Reichtum? Ruhm? Liebe? Oder schlicht Abenteuer? Ich weiß es nicht. Womit konnte er für den Durchlass bezahlt haben? Warum war er so naiv, warum hat er nicht begriffen, dass das Gefährlichste in jeder fremden Welt der Mensch ist? Ich weiß es nicht. Doch den Flüchtling, das ist mir damit klar geworden, durfte ich nicht entkommen lassen. Einst lebten auch in seiner Seele Liebe und Güte. Nun herrschte dort allein die Angst. Wenn es möglich gewesen wäre, die Angst zu töten, hätte er nie wieder die Hand gegen einen Menschen erhoben. Aber solange dieser Mensch lebte, hätte er nicht aufgehört, sich zu fürchten. Deshalb habe ich den Flüchtling getötet und ihm seinen Jeton abgenommen.«
    In seinem Stuhl schaukelnd und Rauchwolken ausstoßend, ließ sich der Schließer die Worte durch den Kopf gehen. Nach einer Weile nahm er die Pfeife aus dem Mund. »Du hast meine Einsamkeit und meine Trauer vertrieben, Wanderer. Tritt durch das Große Tor und setze deinen Weg fort.«
    Nunmehr durfte Martin sich in den ersten Stock begeben, eines der für Menschen bestimmten Zimmer aufsuchen, ein heißes Bad nehmen und etwas essen. Freilich konnte er seinen Weg auch unverzüglich fortsetzen.
    Martin nickte. Er schenkte sich ein Glas Wein ein. Die nächste Frage stellte er beiläufig, bemüht, sie möglichst wie eine rhetorische klingen zu lassen. »Was war am ersten Teil der Geschichte denn schlecht …«
    Selbstverständlich antwortete der Schließer darauf nicht. Selbstverständlich hatte Martin das auch gar nicht erwartet. Mit einem Schluck trank er seinen Wein aus und erhob sich. »Vielen Dank für die Lektion, Schließer. Leb wohl.«
    »Bist du in der Stadt gewesen, Wanderer?«
    »Nein. Aus der Ferne habe ich die Lichter zwar gesehen, wollte aber keine Zeit verlieren.«
    »Es ist eine große Stadt«, erklärte der
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