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Spaziergang im Regen

Spaziergang im Regen

Titel: Spaziergang im Regen
Autoren: Alison Barnard
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gesichert war, als es den Eindruck machte.
    Auf der kurzen, stillen Fahrt zur vierten Etage fühlte sie, wie sie immer nervöser wurde; sie betrachtete sich kritisch in dem leicht getönten Spiegel, der die gesamte Rückwand des geräumigen Aufzugs einnahm. Auf einmal fühlte sie sich nackt, so fast ungeschminkt und ohne die üblicherweise viel größere Menge Haar. Sie war froh, dass die Tönung ihm nicht den gesunden Glanz genommen hatte, aber sie hatte immer noch Mühe, sich selbst zu erkennen, obwohl es mittlerweile vier Tage her war, dass sie ihrem Friseur die durchgreifende Änderung ihres Aussehens aufgetragen hatte.
    Ein leises Läuten erklang, bevor sich die Aufzugtüren öffneten und den Blick auf einen kleinen Vorraum freigaben, in dem ein Tischchen aus Kirschbaum stand, mit einem getrockneten Blumenstrauß darauf. Die Wände waren mit einer weißen Leinentapete geschmückt, und der Boden mit einem lodengrünen Teppich ausgelegt, der so dick war, dass sie am liebsten ihre Schuhe ausgezogen hätte, um darin mit den Zehen zu wackeln. Die Wohnungstür war aus dem gleichen tiefdunklen Kirschbaumholz wie der Tisch, und kurz bevor sie sich öffnete, wurde Shara plötzlich klar, dass sie keine Ahnung hatte, was sie erwartete.
    Sie hatte Jessa Hansons Biographie gelesen und auch das Drehbuch, das sich auf die Jahre zwischen ihrem achtzehnten und sechsundzwanzigsten Lebensjahr konzentrierte, mit einigen Rückblenden auf das sechzehnte; sie hatte Aufnahmen ihrer musikalischen Darbietungen angehört und Duzende von Fotos gesehen, auf denen eine hübsche Frau mit großen, dunklen Augen, mit einem höflichen Lächeln oder aber einem gereizten Stirnrunzeln zu sehen gewesen war, aber sie hatte nie ein Video von ihr gesehen. Es gab zwar Videos von Jessa, zahlreiche Nachrichtenausschnitte und Dokumentationen von Musiksendern, aber alle diese Aufzeichnungen waren auf einer DVD zusammengefasst worden, die erst am folgenden Tag per Post bei Shara eintreffen sollte. So hatte sie bislang noch keine wirkliche Vorstellung von der Frau, für die sie sich in weniger als zwei Monaten ausgeben sollte.
    Jessa öffnete die Tür und fühlte sich, als hätte ihr Herz plötzlich aufgehört zu schlagen. Sie hatte gewusst, dass Shara Quinn hübsch war: ihr Gesicht prangte auf Kinoplakaten in ganz London, und Jessa hatte einen Bericht gesehen, in dem sie über den roten Teppich zur Verleihungsfeier schritt, als sie für einen Oskar für ihre Rolle in Gegen den Staat nominiert worden war.
    Jessa hatte mit einem tagelangen Anfall von Schlaflosigkeit gekämpft, die sie regelmäßig plagte, und so hatte sie sich die DVD ausgeliehen, weil sie neugierig auf die irische Schauspielerin war, die in Amerika so Furore gemacht hatte. Der Film war gut gewesen und Shara hervorragend als die missbrauchte Ehefrau eines englischen Physikers, dem letztendlich wegen Landesverrats der Prozess gemacht wurde, nachdem sie seine Forschungsergebnisse an den Höchstbietenden verkauft hatte. Jessa bewunderte das Talent der Schauspielerin, die den Oskar für die beste weibliche Darstellerin erhalten hatte, aber sie fand trotzdem, dass Shara hätte gewinnen sollen.
    Während sie die Tür öffnete, bereitete sie sich auf den Anblick von schönen, grünbraunen Augen und hübschen Lippen vor, umrahmt von glänzendem, dunkelblondem Haar. Sie bereitete sich darauf vor, eine verwöhnte Schauspielerin zu sehen, die egoistisch genug war, sich einzubilden, die schmerzvollsten Jahre in Jessas Leben portraitieren zu können, ungeachtet der Tatsache, dass sie sich nicht im Entferntesten ähnlich sahen und auch sonst nichts gemein hatten.
    Statt dessen sah sie in Augen, deren Farbe sie zwar durch die graugetönten Gläser in Sharas Sonnenbrille nicht bestimmen konnte, in deren Tiefen jedoch deutlich eine fast panische Angst zu sehen war. Sharas Haar war glänzend und kurz, und ihre vollen, rosa Lippen formten ein zögerndes Lächeln, das Grübchen in ihren Wangen erscheinen ließ. Jessa stockte der Atem.
    »Hiya, Sie müssen Jessa sein. Ich bin Shara.« Ihre Stimme war tiefer, als Jessa erwartet hatte, obwohl sie sie bereits gehört hatte, und zwar auf dem Besten, das Bang & Olufsen zu bieten hatte.
    Jessas Herz begann wild zu klopfen, und sie versuchte sich trotz des ablenkenden Geräusches in ihrem Inneren darauf zu konzentrieren, sich nicht vollkommen zur Närrin zu machen. »Das bin ich. Danke, dass Sie heute vorbeikommen konnten. Ich weiß, es war sehr kurzfristig, aber ich
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