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Späte Schuld

Späte Schuld

Titel: Späte Schuld
Autoren: David Kessler
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der Zwischenzeit bekommen Sie eine Arbeitskabine in der Ecke – da kriegen Sie den Lärm gar nicht mit.«
    Er bemerkte ihren Gesichtsausdruck. »Was ist?«
    »Kann sein, dass ich mich damit unbeliebt mache, aber ich möchte eines klarstellen: Für eine Arbeitskabine im Großraumbüro bin ich nicht in Ihre Kanzlei gekommen. Ich habe den Vertrag unterschrieben, weil ich ein eigenes Büro bekommen und sogar eine Abteilung leiten sollte, und nicht, um hier wie ein Stiefkind behandelt zu werden.«

Freitag, 5. Juni 2009 – 14.40 Uhr
    »Boah, seht euch diesen Hintern an!«
    Alex warf dem schielenden Proleten in zerrissenen Jeans mit der fast leeren Dose Budweiser in der Hand einen wütenden Blick zu. Der Mann drehte den Kopf zu ihm, als wollte er fragen: »Willst du ein großes Ding draus machen?«
    Im Grunde wollte Alex das nicht. Aber er war bereit dazu. Die rechtlichen und beruflichen Konsequenzen für ihn als Anwalt machten ihm mehr Angst als die Möglichkeit, zusammengeschlagen zu werden. Der Kerl war zwar größer als er, aber Alex praktizierte Krav Maga , eine israelische Kampfkunst, und schätzte die Chancen ungefähr fifty-fifty ein.
    Weil er dem nach Aufmerksamkeit heischenden Trunkenbold keinen Gefallen tun wollte, konzentrierte sich Alex wieder auf den Billardtisch, über den sich gerade eine vierunddreißigjährige, katzenhafte dunkelhaarige Frau chinesisch-amerikanischer Herkunft beugte.
    Sie waren im Embassy Billardclub in San Gabriel. Während des Herrenwettbewerbs – das Embassy war der vierte von sechs Austragungsorten der US-Tour – war der Club überfüllt gewesen, aber jetzt, als die Frau in schwarzer Hose und passender Weste den entscheidenden Stoß ihres Frames – wenn nicht gar des gesamten Halbfinal-Matches – anpeilte, war der Saal halbleer.
    Nach einigen Sekunden erstarb das Geschnatter der Zuschauer und ging in respektvolles Schweigen über. Gespannt hielten alle im Saal die Luft an und fragten sich, ob Martine Yin es wohl schaffen würde.
    Sie führte den Stoß mit entspannter Coolness aus, nicht zögerlich, sondern mit der festen Entschlossenheit einer Spielerin, die genau weiß, dass es für den zweiten Platz keine Lorbeeren gibt. Als die rote Kugel in der rechten Ecktasche landete und die weiße Kugel langsam ausrollte und dreißig Zentimeter vor der linken Bande liegen blieb, brach die kleine Gruppe dankbarer Aficionados, die gekommen war, um sich das Spiel und Martine anzusehen, in anfeuernden Beifall aus. Auch Alex applaudierte begeistert, obwohl er zugeben musste, dass er zu jenen Zuschauern zählte, die sich mehr für Martine als für Billard interessierten.
    Mit Unterbrechungen führten sie nun schon seit über einem Jahr eine Beziehung – wenn man es überhaupt so nennen konnte. Alles hatte damit angefangen, dass Martine Alex nach dem Clayton-Burrow-Fall mehrere Monate lang verfolgt hatte, um ihn zu einem Interview zu bewegen. Sie war Fernsehreporterin und hatte über den Fall berichtet, der zu Alex’ berühmtestem geworden war. Zusammen mit anderen Reportern hatte sie sich im Beobachtungsraum neben der Todeskammer befunden, als der schicksalhafte Anruf und mit ihm der Befehl zum Abbruch der Hinrichtung eingegangen war.
    Und sie hatte, wenn auch nur aus der Ferne, Alex’ eindringliches Gespräch mit seinem Rechtsreferendar miterlebt, in dessen Folge dieser verhaftet worden war. Die ganze surreale Episode hatte ihren Höhepunkt in einer nächtlichen Verfolgungsjagd mit dem Auto und einem verhängnisvollen Unfall gefunden, der den Kameras der Nachrichtenhelikopter bedauerlicherweise entgangen war.
    Nach Abschluss des Falls hatte sich Alex standhaft geweigert, auf Martines Interviewanfrage einzugehen, und als sie dann doch endlich Gelegenheit bekommen hatte, mit ihm zu sprechen, hatte sie den Eindruck gehabt, dass er ihr nicht die ganze Wahrheit sagte. Zunächst war sie fest entschlossen gewesen, seinen Panzer zu knacken, aber irgendwann hatte sie gespürt, dass Alex’ Zurückhaltung mehr mit seinen persönlichen Gefühlen zu tun hatte als mit irgendwelchen harten Fakten, die den Fall selbst betrafen. Schnell war ihr klar geworden, dass Alex ungeachtet des Raubtierimages seiner Profession auch nur ein Mensch war, was sie ihrerseits, wie ihr ebenso schnell klar geworden war, daran hinderte, bei der Ausübung ihres Berufs mit der üblichen raubtierhaften Rücksichtslosigkeit vorzugehen.
    Erst durch diese Erkenntnis und die damit einhergehende Abmilderung in Martines Verhalten
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