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Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
Autoren: Ralph Dutli
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gesagt. Das müsste man malen können. Er hat ein Leben gebraucht, um endlich den Tod malen zu können. Mit den Reifen des falschen Gefährts.
    Die absurdesten Umwege sind dem Leben eine Zeitlang ein nutzloses Vergnügen, Zerstreuungen eines Übersatten und Verwöhnten, den auch das nicht mehr stört. Es lässt sie zu, ohne ihnen viel Aufmerksamkeit zu schenken. Trotz aller Umwege ist es immer ein gerader Weg. Links und rechts gibt es Leben zuhauf.
    Chaim heißt Leben, und in der Sprache der Bibel gibt es das Wort nur in der Mehrzahl. Nur die Mehrzahl des Lebens? Nichts Einzelnes, es hat im Ganzen aufzugehen – und zu verschwinden. Der Friedhof heißt Beth-Chaim: Haus des Lebens. Montparnasse ist sein Name in einem Leben, das die Verwechslungen liebt, unbekümmert und schamlos. Der Ort, wo die Musen wohnten. Ein griechischer Gebirgsrücken, der sich in eine französische Großstadt verirrt, ein heidnischer Ort mitten in Paris, voller lebensgieriger Dämonen. Ein luxuriöser Friedhof, voller Maler und Admirale.
    Ich wohnte damals ganz in der Nähe, in einer winzigen, nur ein paar Meter langen, in die Rue Daguerre mündenden Seitengasse, deren Name einen General oder Admiral, irgendeinen hohen Militär ehren sollte. Jedenfalls einen der Armen der Welt, die zur Bezeichnung kurzer enger Gassen taugen. Und irgendwo auf dem riesigen Gottesacker voller steinerner Zeugen lauert eine schwarze anonyme Grabplatte mit der Aufschrift:
La vie ne meurt pas
. Das Leben stirbt nicht. Ich habe es tausendmal gesehen, dieses anonyme Leben in der Einzahl, den kurzen Spruch, das Fehlen der Lebensdaten, des Geburtsjahres, des Todesjahres. Es war die Zeit, als die ersten Aids-Toten in den Friedhof Montparnasse einzogen.
    Chaim stirbt nicht. Er ist in der Mehrzahl. Jeden Tag ging ich über den Friedhof, kannte seine verschlafenen Katzen, ging aus und ein im Haus des Lebens, wo der Tod verlorengeht. Chaim stirbt nicht. Chaim stirbt. Chaim.
    Vor der Revolution hatte das Gelände einem Kloster gehört, der Bruderschaft der Barmherzigkeit. Eine Windmühle ohne Flügel steht einsam noch immer zwischen den Toten, vom Efeu überwachsen, von einfallsreichen Vögeln geschätzt.
Le Moulin de la Charité:
Die Mühle der Barmherzigkeit gehört den Verstorbenen. Hier wird das luftige Korn gemahlen, Zigtausende von Körnern sind es, jedes Korn ein Menschenleben, die Mehrzahl des Lebens. Ein plötzlich weltlicher Ort, von dem die Seelen auffliegen in ihrem leichtsinnigen Rausch, in ihrer Lust auf Luft und Raum. Im Jahrhundert der Geburt des Malers gab es hier das »Rübenfeld«,
le champ des navets
, in der Sprache der Strafkolonien eine Armengrube, ein Gemeinschaftsgrab, wo man die Leichen derer hineinkippte, die zur Todesstrafe verurteilt und hingerichtet worden waren.
La vie ne meurt pas
. Chaim stirbt nicht. Ob du es glaubst oder nicht.
    Ich habe jahrelang versucht zu verstehen, was mich an seinen Bildern überwältigt. Seit dem Augenblick, als Eleni in der Metro hinter meinem Rücken das Plakat sah mit der taumelnden Kathedrale von Chartres, die auf mich niederzustürzen drohte. Es war 1989, wir fuhren kurz darauf nach Chartres, knapp hundert Kilometer westlich von Paris, und übernachteten in einem winzigen Hotel. In der Nähe hörten wir Züge vorüberrattern, als wir uns stammelnd liebten und nicht mehr wussten, wo wir waren. Nichts als zitternde Fingerkuppen im Gedächtnis. Wie ein Dichter schrieb: Und die Lippen, die nichts mehr sagen können, bewahren den Umriss des zuletzt gesprochenen Wortes. Als wir die Ausstellung im ehemaligen Haus des Bischofs sahen, brauchten wir nicht mehr zu sprechen.
    Es ist die Fixierung des einzigen Bildes, des alles entscheidenden Augenblicks. Die unermessliche Scham, die anwachsende Befremdung, auf der Welt zu sein. Die Verwaistheit aller Figuren, das Taumeln der Dinge in einer heillosen Welt. Lakonische Lyrismen. Der genau fixierte, farbig schillernde Tod am Werk. Und die unfehlbare Vitalität desselben Augenblicks.
    Es war kurz nach dem Jahr 2000, als ich wieder zum Friedhof Montparnasse ging. Ich lebte längst anderswo, war eines Tages mit allem, was mir lieb war, in einem verbeulten und staubigen roten Renault 5 weggefahren. Ich hatte vor Jahren in einem Gedicht geschrieben, was mir auf demselben Friedhof immer wieder einfiel:
    So lange hältst du auf dein Glück zu / bis es dir in den Rücken fällt.
    Und ging mehrmals zurück, um zu verstehen, warum alles so und nicht anders gekommen war. Es gab keinen
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