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Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)

Titel: Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
Autoren: Ralph Dutli
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andern Ort, wo mir die furchtbare Einzigkeit des Lebens so klar vor Augen stand. Und die Mehrzahl des Lebens im schlichten Vornamen Chaim.
    Ich hatte den Ort in den achtziger Jahren fast täglich besucht, als ich mit Eleni in der Nachbarschaft wohnte, in der erwähnten kleinen Seitenstraße der Rue Daguerre. Wie oft war ich auf dem Friedhof herumgekreist, wenn die Dinge stockten oder wenn ich Luft brauchte. Es war eine Oase voller Stille mitten in der Großstadt, die ich damals liebte. Eine klingende Stille, der Friedhof ist ein Stimmenchor, und meine Antennen waren auf Empfang gestellt. Ich ging also wieder zu dem Grab mit dem falsch geschriebenen Vornamen, stand eine ganze Weile vor ihm. Erste Division, fast am Ende der
Avenue de l’Ouest
, linkerhand. Und fühlte mich beobachtet.
    Ein alter Herr mit schwarzem Hut, Halstuch und Stock schaute mir aus der Entfernung von einigen Grabreihen unverwandt zu. Und wollte nicht weggehen. Da schaute ich zurück, ihm direkt ins Gesicht, ohne mich abzuwenden, gleichsam eine Auskunft fordernd. Ich dachte, es sei die letzte Möglichkeit, ihn loszuwerden.
    Da kam er endlich auf mich zu, nicht trippelnd, aber mit spürbarer Erleichterung und Ungeduld, und fragte, ohne zu grüßen, ohne jede Höflichkeitsfloskel:
    Wie haben Sie ihn entdeckt?
    Warum wollen Sie das wissen?
    Ich bin oft hier. Und ich will Ihnen etwas verraten: Ich war schon bei seinem Begräbnis hier.
    Jetzt wurde ich wütend, sagte nichts, aber meine Kopfbewegung besagte nichts anderes. War das wieder so ein Verrückter oder Wichtigtuer, der mit der halben begrabenen Prominenz auf du war? Wie viele Wahnsinnige gibt es auf den Friedhöfen dieser Welt! Die Nähe der Toten erleuchtet und inspiriert sie. Blitzschnell versuchte ich sein Alter einzuschätzen. 1943: unwahrscheinlich. Völlig unmöglich war es nicht. Es gibt so viele guterhaltene, frisch und vergnügt durchs Leben hüpfende Achtzig- bis Neunzigjährige, man sollte sich auf seine Schätzungen nichts einbilden. Ich sagte also:
    Es waren doch nur Picasso, Cocteau und Max Jacob am Grab. Und dann natürlich die beiden Frauen, Gerda Groth und Marie-Berthe Aurenche.
    Nein, ich war auch da.
    Und sind nie wieder weggegangen, bemerkte ich sarkastisch und versuchte, ihn damit zu provozieren.
    Nein, aber ich komme oft hierher. Ich beobachte manchmal, wer vor ihm steht. Sie habe ich noch nie gesehen, Sie sind wohl neu hier.
    Sie täuschen sich, ich stand nicht selten hier, als ich ganz in der Nähe wohnte. Sie müssen mich oft verpasst haben. Warum beobachten Sie die Leute? Was bringt Ihnen das? Ist es nicht auf einem Friedhof besonders geschmacklos, Menschen zu beobachten? Sie weiden sich wohl an ihrem Unglück, ihrer Trauer? Spazieren dann hinaus, freuen sich, dass Sie noch am Leben sind und trinken am Boulevard Raspail ihren Apéritif?
    Ich war auf der Beerdigung. Am Mittwoch, 11. August 1943, 14 Uhr.
    Wie konnten Sie davon erfahren? Marie-Berthe Aurenche hatte doch auf der Todesanzeige »Friedhof Père-Lachaise« drucken lassen, vermutlich um die Besatzer und ihre Helfer zu täuschen, und dann im letzten Moment »Père-Lachaise« durchgestrichen und von Hand »Montparnasse« daneben geschrieben.
    Oh, wir haben unsere eigenen Informationen. Ob Sie es glauben oder nicht: Ich war da. Nicht direkt am Grab, aber ganz in der Nähe. Ich stand unauffällig bei dem Baum dort.
    Und er zeigte mit seinem Stock streng auf den Ort.
    Und Picasso stand hier, und Cocteau dort. Die beiden Frauen standen dem Grab zunächst.
    Er zeigte genau auf die Stellen. Max Jacob erwähnte er nicht. Tatsächlich war dessen Anwesenheit zweifelhaft. Er versteckte sich zu dem Zeitpunkt bei den Mönchen in Saint-Benoît-sur-Loire, und in so kurzer Zeit hätte er es nicht zum Begräbnis nach Paris geschafft. Der Weg von der Loire bis Paris war im besetzten Land für einen wie ihn unendlich lang, auch Soutine hatte für seine letzte Fahrt den beinah gleichen Weg genommen. Aber vielleicht hatte Picasso ja recht, als er sagte: Max ist ein Engel. Das Geschäft des Fliegens wäre ihm vertraut gewesen, und er hätte sich somit tatsächlich am 11. August 1943 rechtzeitig auf dem Friedhof Montparnasse einfinden können.
    Was haben Sie dort getan? Warum haben Sie die Szene verfolgt, wenn Sie nicht zu den Trauernden gehörten?
    In einem gewissen Sinne gehörte ich ja zu ihnen. Aber ich kann Ihnen das nicht erklären. Ich halte nur fest: Ich war 1943 hier.
    Wollen Sie mir nicht wenigstens Ihren Namen
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