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Sonnenwende

Sonnenwende

Titel: Sonnenwende
Autoren: Aufbau
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treten werden? Das kommt ja eher selten vor. Bei einem Autounfall höchstens, oder einem Zugunglück. |26| Wir hatten auch mal eine ganze Familie, die gemeinsam im Eis eingebrochen war – furchtbare Geschichte …«
    »Sie haben recht, darüber haben wir uns noch gar keine Gedanken gemacht. Wie dumm von uns! Wir werden darüber nachdenken. Ich bin sicher, wir finden eine Lösung. Kann ich eine Karte haben?«
    Die Frau beugte sich über den Schreibtisch und fingerte eine Visitenkarte aus einem alten Holzkästchen. Helen nahm sie, steckte sie in ein Informationsblatt mit Konditionen für eine Bestattungsvorsorgeversicherung, und sie verabschiedeten sich. Draußen liefen sie gegen eine schwüle Wand aus unbeweglicher Luft. Tom war verwirrt: »Was war denn das für ein Quatsch?«
    »Wieso Quatsch? Wir sterben alle irgendwann. Das ist kein Quatsch.«
    »Die arme Frau kommt sich jetzt sicher total verarscht vor.«
    »Ich fand, sie war ausgesprochen zuvorkommend und kompetent. Man kann sich doch mal beraten lassen. Los, es ist grün!«
    Sie zog ihn über die Kreuzung. Tom fragte sich, ob sie vor etwas davonlief oder auf etwas zu.

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    |27| Wladimir
    Wladimir war penibel. Den ganzen Tag in Schmutz und Schweiß überstand er nur, weil er wusste, dass zu Hause ein Reich der Sauberkeit auf ihn wartete. Die Ritzen zwischen den Dielen in seiner Wohnung hatte er mit einem speziellen Fugenfüller versiegelt, weil ihm die Vorstellung von Staub an schlecht zu säubernden Stellen die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Das Silikon, das er in seinem Badezimmer verspritzt hatte, hätte genügt, um den Panamakanal abzudichten.
    Wenn er nach Hause kam, zog er sich vor der Wohnungstür die Schuhe aus, schlüpfte in die bereitstehenden Filzpantoffeln, trippelte ins Bad und stieg unter die Dusche. Hinter geschlossenen Türen zog er sich aus, um seine Arbeitskleidung ohne Bodenberührung in die Waschmaschine zu stecken und anschließend jede Pore seines Körpers einzeln vom Staub zu befreien. Er hätte es nicht zugegeben, aber einer der Gründe, weshalb er Frauen ungern mit zu sich nach Hause nahm, war das Gefühl, sie beschmutzten seine Wohnung, indem sie ihre Körpersäfte zurückließen und überall ihre Haare verteilten.
    Von dem Geld ihres ersten gut kalkulierten Auftrags kaufte er sich einen Bulthaup-Herd, dessen einzige Aufgabe darin bestand, das Wasser seiner Espressokanne zu erhitzen. Noch in Jahren würde er so aussehen, als hätte man ihn eben erst ausgepackt. Tom meinte, dreitausend Euro seien doch eine ziemlich hohe Investition, um Wasser zum Kochen zu bringen, aber Wladimir fand, es war ein schönes Möbelstück; er mochte glatte Flächen.
    |28| Sein Kühlschrank war leer. Und sauber. Wenn er zu Hause aß, brachte er sich das Essen mit oder ließ es kommen. Eine Schachtel Pizza, vorgeschnitten. Nach dem Verzehr kam alles zusammen in eine Plastiktüte, die gleich hinunter in den Container wanderte, so musste nichts davon auch nur seine Arbeitsplatte berühren. Danach gründlich die Hände gewaschen und den Rand des Beckens abgewischt, und nichts deutete mehr darauf hin, dass in seiner Wohnung Essen verzehrt worden war. Außer einem unbestimmten Geruch, der noch in der Luft hing und sofort durch vehementes Lüften rückstandslos entfernt wurde.
    Wladimirs kulturelles Interesse war rudimentär und erschöpfte sich im wesentlichen in Kinofilmen, die gerne bunt und laut sein durften. Die Bücher seines Vaters verhöhnten ihn – als sollte ein Mittelstürmer mit Schachfiguren die Abseitsfalle einstudieren. Und Staubfänger waren sie außerdem. Hätte er Klavier gespielt, dann hätte ihm jetzt ein außergewöhnliches Instrument zur Verfügung gestanden, aber weshalb man monatelange Arbeit daransetzen sollte, ein Stück einzustudieren, nur damit es nicht einmal halb so gut klang wie die Aufnahme eines drittklassigen Pianisten, hatte ihm noch nie eingeleuchtet. Das konnte doch nur frustrierend sein. So musste König Ottos Flügel weiterhin ein karges Dasein fristen und darauf warten, dass Tom vorbeikam, um seine verborgene Schönheit entfalten zu können.
    Wladimir war rastlos. Sobald er aus der Dusche kam, trieb es ihn schon wieder aus der Wohnung. Als Paul und Tom eines Freitags ins Kino gehen wollten und Wladimir mit der Begründung ablehnte, ein gutes Buch lesen zu wollen, kam Paul das verdächtig vor.
    »Woran erkennst
du
ein gutes Buch?«
    »Ich dachte, ich versuche es mal. Jetzt, wo meine Wohnung voll damit ist.«
    |29|
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