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Sonnenwende

Sonnenwende

Titel: Sonnenwende
Autoren: Aufbau
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»Du hältst es doch zu Hause nicht länger aus, als du unter Wasser die Luft anhalten kannst.«
    Natürlich ging Wladimir dann doch mit ins Kino.
    Als Mann der niederen Minne hatte er sich dem trivialen Lustgewinn verschrieben. Statt das Äußere einer Frau als Spiegel ihrer inneren Werte zu sehen, neigte er dazu, es als Spiegel ihrer sexuellen Bereitwilligkeit zu interpretieren. Darin war er ein Kind seiner Zeit.
    Helen ging so weit zu sagen, er leide unter einem pathologischen Frauenkonsumzwang. Tom fand, in dieser Einschätzung kam vor allem Helen selbst zum Vorschein, aber ganz unrecht hatte sie nicht: Wladimir war sich klar darüber, in einer Zeit zu leben, die so tat, als müssten Männer und Frauen ein Zusammenleben nicht mehr lernen. Das fand er gut. Weshalb sollte man an einer Beziehung arbeiten? Das war doch widersinnig. Die von vielen proklamierte Gefahr zunehmender seelischer Verflachung, in deren Folge Liebe zu Sex profanisiert werde, schreckte ihn keineswegs. Für Wladimir war es eine Abkürzung, denn letztlich, da war er sich sicher, hatten sie im Mittelalter auch nur nach einer Möglichkeit gesucht, die Frauen ins Bett zu kriegen. Und wenn man deshalb als Troubadour von Hof zu Hof ziehen und die Hofdamen mit seiner Klampfe bezirzen musste, dann machte man das eben. Und wenn Capellanus, der ihm neulich aus einem der Buchkartons seines Vaters entgegengekommen war, in der Unterweisung der Liebeskunst eine Anleitung zur Führung von Dialogen verstand, dann war er ein Heuchler, und was für einer! Das Streben nach Liebe als Quell höchster Seligmachung lag ihm fern, denn der Liebe war immer schon das Leid eingepflanzt, und das war seine Sache nicht.
    Ob er sich eines Tages zur hohen Minne würde emporschwingen können, war unklar. Schließlich war das Ideal der Liebe verbunden mit dem Streben nach einem höheren Wert. |30| Wladimir müsste demnach für seine Liebe ein besserer Mensch werden wollen; sie hätte Kühnheit bei ihm bewirkt. Das musste nicht sein. Sosehr er Frauen auch begehrte und bewunderte, an ihnen wachsen wollte er nicht.
    Trotz seiner undiplomatischen Art und seines groben Aussehens haftete ihm etwas Sehnsuchtsvolles an. Er war von einer Aura umgeben, die Wärme und Mitgefühl erahnen ließ. Der hatte er auch seinen Erfolg bei Frauen zu verdanken. In schwachen Momenten konnte ihm ein Lächeln entgleiten, das, Tom hatte es bei Henriette gesehen, Herzen verzauberte. Auch Lara fand ihn sexy. Tom hatte sie einmal gestanden, er wirke auf sie wie die überlebensgroße Holzfigur eines Cowboys, auf deren Rückseite jemand ein zärtliches Gedicht eingeritzt hatte.
    Wladimir war dankbar für die Chancen, die sich ihm dadurch eröffneten. Entweder die Frauen sahen eine Tiefe in ihm, die er nicht besaß, oder sie konnten etwas sehen, von dem er nichts wusste. Ihm war beides recht.
     
    Zwei Wochen nach ihrer Rückkehr aus Bonn bekamen Tom und er den nächsten großen Auftrag. Sie wuchteten gerade gemeinsam die letzten Biographien deutscher Kaiser aus Wladimirs Kartons, als Toms Handy klingelte. Ein Literaturprofessor wollte die zweiundzwanzig Türen seines noch zu beziehenden Altbautempels in neuem Glanz erstrahlen lassen.
    »Ich rufe Sie auf Empfehlung eines Freundes an, der mich wissen ließ, dass … nein, kein ›dass‹ … der mich wissen ließ, Sie seien nicht der … gewöhnliche Handwerkertyp.«
    Es klang fast geheimnisvoll. Tom hatte keine Ahnung, was für einen Freund der Professor haben konnte, der ihn kannte, und noch weniger, was ihn von dem »gewöhnlichen Handwerkertyp« unterschied.
    »Ah.«
    »Sehen Sie, ich meide den Umgang mit geistig ordinär |31| strukturierten Menschen. Glauben Sie deswegen bitte nicht, ich sei arrogant. Ich empfinde es einfach als ausgesprochen ermüdend, mich mit Menschen auseinandersetzen zu müssen, die mir geistig nicht folgen können.«
    Tom begann sich zu fragen, ob sie für
ihn
arbeiten und sich geistig mit
ihm
auseinandersetzen sollten.
    »Verstehe.«
    »Es würde mir ein gutes Gefühl geben, zu wissen, dass meine Wohnung von jemandem renoviert wird, der nachdenkt, bevor er etwas kaputtmacht. Wie ich höre, haben Sie studiert?«
    O ja, sie hatten studiert. Wenngleich sich die Vorstellung des Professors kaum mit Wladimirs Studienrealität decken dürfte. Auf seine Art war der Professor ja ganz lustig; andere fragten einen, ob man gedient hatte. Das Gespräch ging noch eine Viertelstunde so weiter, und nach einem Exkurs über Shelley, Keats und Byron
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