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Sonnenwende

Sonnenwende

Titel: Sonnenwende
Autoren: Aufbau
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Fähigkeiten und gab den Widerstand schließlich auf; vielleicht hatten ihre Eltern ja recht.
    Eine kleine Welt brach zusammen, als Helen nach der Ausbildung ihren Wunsch durchsetzte, nach Berlin zu gehen. Im Umland gab es doch
auch
Krankenhäuser, da hätte sich sicher eine Stelle finden lassen, zumal bei ihrem Zeugnis! Dass ihre Tochter so weit weg wollte, und dann auch noch nach Berlin – Roswita und Heinz konnten es nicht verstehen. Es war doch alles gut so, wie es war, da musste man doch nichts ändern. Sicher, es gab Jochen, ihren ersten richtigen Freund, den sie noch aus der Schule kannte und der ihr eines Tages aus heiterem Himmel verkündet hatte, dass er ab sofort lieber mit Kerstin zusammen sein wollte – einer Freundin, mit der Helen die Schwesternausbildung absolviert hatte. Sechs Wochen später |35| stellte sich heraus, dass Kerstin da schon im vierten Monat von ihm schwanger war. Das war natürlich ein harter Schlag für Helen gewesen, aber deshalb musste man doch nicht gleich die Stadt verlassen.
     
    Als Helen und Tom ihren Antrittsbesuch machten, hatten sie ihren ersten Streit. Eigentlich war es kein richtiger Streit, sondern das Anrennen gegen eine Mauer. Rückblickend kam es Tom so vor, als sei die Art, wie sie in bestimmten Dingen miteinander umgingen, an diesem Tag geboren worden, und als hätten sie in diesem Moment für immer ihre Chance verspielt, normale Auseinandersetzungen zu führen.
    Sie hatten die Taschen aus dem Kofferraum genommen und steuerten das Gartentor vor Helens Elternhaus an, als ihnen auf dem Bürgersteig eine Frau entgegenkam, die einen Jungen an der Hand führte, der eigentlich zu groß war, um noch an der Hand geführt zu werden. Die Frau begrüßte Helen, wandte sich an Tom und streckte ihm ihre Hand hin: »Hallo, ich bin Veronika. Sie müssen Tom sein. Roswita hat mir schon von Ihnen erzählt. Wir sind Nachbarn.«
    Tom gab ihr die Hand und beugte sich zu dem Jungen hinunter.
    »Hallo, ich bin Tom. Hast du
auch
einen Namen?«
    Der Junge lächelte in einer Mischung aus Freude und Verlegenheit.
    Tom: »Also keinen Namen. Na, das ist ja zu traurig …«
    »… Kevin. Ich bin Kevin.«
    »Kevin! Was für ein Zufall! Ein Glück, dass ich dich treffe. Weißt du was? Als wir hergefahren sind, stand eine Fee am Straßenrand, die mir etwas gegeben hat. ›Das ist für Kevin‹, hat sie gesagt, und die ganze Fahrt über habe ich mich gefragt, wer wohl Kevin sein mag. Nun, jetzt weiß ich es. Warte, wo hab’ ich es bloß …«
    |36| Tom kramte umständlich in seinen Taschen herum und förderte nach einer dramatischen Pause einen walnussgroßen bunten Glasstein zutage, den er in seine ausgestreckte Hand legte. Er hatte ihn auf der Autobahnraststätte im Gras liegen sehen. »Was willst du denn damit?«, hatte Helen gefragt und ihm gesagt, er solle ihn liegenlassen.
    Kevin schaute unsicher zu Veronika auf, als müsse er sie um Erlaubnis fragen.
    »Nimm ihn ruhig«, sagte Tom. »Es ist ein Talisman. Er bringt Glück.«
    »Wirklich?«
    »Hat mir die Fee gesagt.«
    Kevin nahm ihn und betrachtete ihn glücklich. Veronika sah zerknirscht aus.
    »Kevin! Wie sagt man?«
    »Danke.«
    Tom: »Ich danke
dir
. Stell dir nur vor, wir hätten uns nicht getroffen, dann hätte ich mich immerzu fragen müssen, wer wohl Kevin ist.«
    Als Helen die Gartentür hinter sich zuzog, sagte sie: »Was sollte
das
denn?«
    »Was meinst du?«
    »Musstest du mit Kevin gleich ein Gespräch anfangen?«
    »Ich hab’ ihm den Glitzerstein geschenkt, er fand ihn toll.«
    »Hast du nicht gemerkt, dass Veronika vor Scham im Boden versunken ist?«
    »Doch, aber warum?«
    »Jetzt sag bloß, du hast nicht gemerkt, dass Kevin … anders ist.«
    »Mongoloid, meinst du. Doch, natürlich. Darf ich ihm deshalb keinen Stein schenken?«
    »Dreh mir nicht das Wort im Mund herum. Du weißt genau, was ich meine.«
    |37| »Nein, weiß ich nicht. Ich darf nicht mit einem Jungen reden, weil er mongoloid ist?«
    »Du
willst
mich nicht verstehen …«
    »Was soll das?«
    »Ich werde mit dir darüber nicht diskutieren.«
    »Weshalb soll man nicht darüber reden können, dass die Nachbarin deiner Eltern ein behindertes Kind hat?«
    »Bei uns redet man nicht über so etwas.«
    »Warum? Hast du Angst, du könntest dich anstecken?«
    »Darüber redet man einfach nicht. Fertig.«
    Ungläubig und mürrisch stapfte Tom hinter ihr die Treppe hoch. Helen erstickte das Gespräch, indem sie den Klingelknopf drückte. Roswita öffnete die Tür und
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