Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sonnenwende

Sonnenwende

Titel: Sonnenwende
Autoren: Aufbau
Vom Netzwerk:
an meiner Diplomarbeit. Seitdem hält mich Tibatong für einen hoffnungsvollen Fall. Jedenfalls glaubt er, dass noch nicht
alles
verloren ist.«
    »Ich staune.«
    »Ja, ich auch.«
    Tom fragte sich, weshalb Wladimir vorbeigekommen war. »Nur mal so« war nicht seine Art.
    »Wie läuft’s mit Desdemona?«
    »Wir sind zusammengezogen.«
    »Klingt ja nicht so begeistert.«
    »Doch, es ist toll, ehrlich! Abends lesen wir uns gegenseitig aus den Büchern meines Vaters vor. Wir lieben uns.«
    |216| Wer hätte das gedacht.
    »Habt ihr euch eine neue Wohnung gesucht?«
    »Nein, sie ist zu mir gezogen.«
    »Zu dir? Wo hat sie denn ihre Schuhe hingestellt? Zwischen Hegel und Schopenhauer?«
    »Wir haben die Bücher abholen und zu ihrem Vater bringen lassen, bis auf ein Regal. Mehr schaffen wir sowieso erst mal nicht. Tibatong hat darauf bestanden, es von einer Spedition machen zu lassen. Bei der Vorstellung, Des könne sich ihre zarten Fingernägel an einem Karton einreißen, hat er Pickel gekriegt. Jetzt haben Des und ich jede Menge Platz, und Tibatong etwas, womit er seine Hallen füllen kann.«
    »Woher der plötzliche Sinneswandel? Du weißt schon: Desdemona, zusammenziehen …«
    »So plötzlich kam der nicht. Ich hatte schon lange keine Lust mehr, die ganze Zeit hinter etwas herzurennen, von dem ich selbst nicht wusste, was es sein sollte. Ich wollte endlich mal eine Frau, mit der ich nicht nur schlafen muss. Ich bin vierunddreißig!«
    Es klang, als hätte er das eben erst erfahren und als sei er von seiner Entscheidung selbst noch nicht richtig überzeugt.
    »Heißt es nicht, der Weg ist das Ziel?«
    »Es gibt kein Ziel. Es gibt nur … Unruhe.«
    Er hätte auch »Sehnsucht« sagen können, doch das würde ihm nie über die Lippen kommen.
    Wladimir: »Wo wir schon dabei sind: Ich wollte dir noch was sagen …«
    »…«
    »… Wir werden heiraten.«
    »Ihr werdet heiraten.«
    »Wir – werden – heiraten. Sobald ich mit dem Studium fertig bin.«
    »Sobald du mit dem Studium fertig bist.«
    |217| »Sobald ich mit dem Studium fertig bin.«
    »Na, das kann ja noch dauern.«
    »Sehr witzig … Sag mal, willst du nicht auf unserer Hochzeit spielen?«
    »Verstecken?«
    »Klavier, natürlich.«
    »Wird mir eine Ehre sein.«
    Jetzt war es raus, Wladimir sah richtig erleichtert aus.
    Ausgerechnet Wladimir, der kein halbes Jahr zuvor noch jede Beziehungskonvention von sich geschleudert hatte wie ein Hammerwerfer sein Wurfgerät. »Freiheit, Sex, no commitment!« Das war das Motto, das in goldenen Lettern auf seiner Fahne geprangt hatte. Heirat! Großer Gott, was für ein Irrsinn! Und jetzt? Kniete er nieder und bat um Einlass in den goldenen Käfig, um sich bereitwillig die Flügel stutzen zu lassen, wenn sie ihm nur treu war und ergeben.
    Tom: »Was ist mit deiner Freiheit?«
    »Was soll damit sein?«
    »Hast
du
mir nicht erzählt, Freiheit und Beziehung seien unvereinbar? Und jetzt willst du sogar heiraten?«
    »Freiheit ist ein Fake. So was wie ein Placebo. Im Grunde bist du ohne Beziehung genauso unfrei wie mit – nur auf eine andere Art.«
    »Und Liebe? Ich dachte, die gibt es auch nicht?«
    »Stimmt. Liebe ist nur … das Theater des Herzens.«
    »Hast du nicht eben gesagt, ihr würdet euch lieben?«
    »Wir bilden uns ein, uns zu lieben.«
    »Wo ist der Unterschied?«
    »Es gibt keinen.«
    »Könnte von mir sein.«
    »Ja, so weit ist es gekommen.«
    Johanna kam vorbei und verabschiedete sich von Tom mit einem Doppelkuss auf die Wange. Beim zweiten rutschte sie |218| etwas ab: »Ciao, Tom. Wir sehen uns – jetzt, wo ich weiß, wo ich dich finde.«
    Wladimir blickte ihr nach.
    »Wer war denn das?«
    »Johanna.«
    »Ah, Johanna also. Und? Wer ist sie?«
    »Ich weiß es nicht. Nicht wirklich.«
    Nachdenklich durchstöberte Tom seine Noten.
    Wladimir: »Was ist denn das für Musik? Das kommt mir so bekannt vor.«
    »Die Pavane von Ravel. Ich hab’ es manchmal gespielt, wenn ich bei dir war.«
    »Ach ja, das Stück, das meine Nachbarin so geil fand.«
    »Stimmt, ich erinnere mich. Was ist eigentlich mit der?«
    »Keine Ahnung. Scheint sich länger nicht geschnitten zu haben. Vielleicht ist sie verreist, ihr Briefkasten quillt über.«
    »Musstest du mit ihr eigentlich auch ins Bett gehen, oder hast du sie verschont?«
    »War mir zu abgedreht. Ich fand sie ja ganz süß mit ihren Kulleraugen, aber irgendwie war die komisch. Einmal war ich in ihrer Wohnung, sie hatte ihr Handtuch bei mir liegenlassen. So was hast du noch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher