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Sonnenwende

Sonnenwende

Titel: Sonnenwende
Autoren: Aufbau
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doch als er bei der letzten Reihe angelangt war, wurde er durch ein Geräusch so abrupt aus seiner Konzentration gerissen, dass sich die Walze wie ein gefräßiges Tier ins Holz biss. Aus den Tiefen der heiligen Hallen dröhnte Wladimirs Stimme zu ihm. Eigentlich hörte er nur ein dumpfes »Mmmpphhfff«, aber er wusste, unter Wladimirs Maske klang es nach einem »AAAAAAAAHHH!«.
    Im Arbeitszimmer tanzte ein wild gewordener Winkelschleifer mit 6600 Umdrehungen pro Minute über den Boden wie ein Tasmanischer Teufel auf der Suche nach einem Opfer. Wladimir hatte sich in eine Ecke geflüchtet und hoffte, unentdeckt |195| zu bleiben. Mit dem ganzen Kram auf dem Kopf sah er aus wie Dustin Hoffman in »Outbreak«. Er hatte sich verletzt. Tom konnte nicht sehen, wo, weil er da kauerte wie ein Fötus, aber auf dem Boden war Blut, und nicht nur ein paar Flecken. Als die Flex Wladimirs Richtung einschlug, zog Tom hinter ihrem Rücken die Nabelschnur. Kurz vor Wladimirs Füßen ging ihr die Luft aus.
    Der gestikulierte unkontrolliert und erzählte Tom etwas. Er hatte Schmerzen, aber sie hatten beide Gehörschutz und Maske auf, so wurde das nichts. Tom legte ab und sagte völlig gelassen: »Wie wär’s, du würdest erst mal die Maske aus dem Gesicht nehmen? So versteh’ ich kein Wort.«
    »Mmmpffph mmompfph mmmmoumpfh!«
    Dann sah Tom sein Bein, beziehungsweise diesen Riss in seiner Hose und den Spalt im Oberschenkel, und all das Blut, das da raussickerte wie aus einem Gartenschlauch, sich auf dem Boden mit dem Holzstaub vermischte und das Parkett versaute.
    »Hoppla, das ist ja mindestens zwei Klafter tief.«
    Nicht, dass Tom gewusst hätte, wie viel ein Klafter maß, aber es sah so archaisch aus. Und als wäre das noch nicht unpassend genug: »Ich schätze, die Hose kannst du wegschmeißen.«
    »MMMMpfhhhopg mmmpffghmpgh!«
    Was Tom von Wladimir unter der Maske sehen konnte, war ganz blass; er hielt sich mit beiden Händen den Oberschenkel, als drohte er abzufallen.
    »Besser, wir binden das ab. Ich sehe mal nach, ob ich was Passendes finden kann.«
    »MMMPPPHGFFFHHOPGH!!«
    »Und nimm die Maske ab.«
    Mit diesen Worten schlenderte Tom in die Küche und kramte gelassen in der Werkzeugkiste nach etwas, das er zum |196| Abbinden benutzen könnte, fand einen Parkettspanner, holte den Cutter aus dem Nachbarzimmer, ging zurück und trennte das Band ab. Dass er es nicht noch aufrollte, war wirklich alles. Anschließend ging er zu Mmmopffh-Wladimir zurück, der in der Zwischenzeit noch etwas blasser geworden war, band ihm den Oberschenkel ab (»MMPFARGG!«), alles ganz glitschig, stand auf, grinste dümmlich, sagte: »Nun nimm doch endlich die Maske ab«, drehte sich einmal um die eigene Achse, wobei er Desdemona an sich vorbei und den schönen Kuchen auf den Boden fliegen sah, sagte: »Ach, du bist es« und fiel in Ohnmacht.
     
    Stimme 1: »Was ist denn mit dem hier?«
    Der hat sich ins Bein geflext, dachte Tom. Das sieht man doch.
    Stimme 2: »Ist kollabiert. Hat anscheinend den Anblick nicht verkraftet.«
    O weh, der arme Wladimir.
    Stimme 1: »Hallo, wachen Sie mal auf.«
    Los, Wladimir, du schaffst es.
    Stimme 1: »Hallo!«
    Komm schon, Wladimir!
    Jemand tätschelte in Toms Gesicht herum.
    Stimme 1: »Aufwachen, bitte!«
    Der meinte ihn!
    Tom schlug die Augen auf und sah ein besorgtes Gesicht.
    »Hallo, verstehen Sie mich?«
    Warum nicht?
    »Klar.«
    »Gut, ich bin der Notar.«
    »Oh, muss ich was unterschreiben?«
    »Wie kommen Sie denn darauf?«
    »Beim Notar muss man immer was unterschreiben.«
    |197| »Notarzt! Ich bin der Notarzt!«
    Ein Glück.
    »Prima.«
    »Sie stehen unter Schock. Wir nehmen Sie mit zur Beobachtung.«
    »Da bin ich aber froh.«
    »Können Sie aufstehen?«
    Toms Beine fühlten sich mehlig an, der Arzt musste ihn stützen. Desdemona stand zittrig im Türrahmen.
    Tom: »Desdemona! Hi, wie geht’s?«
    Desdemona: »Was hat er nur getan?« Als hätte Wladimir ein Verbrechen begangen. Tom war gerührt.
    »Keine Sorge, das sind Momente, die zusammenschweißen.«
    Auf der Treppe kam ihnen das Hauswartsehepaar entgegen, mit zwei Polizisten im Schlepptau.
    »Die von der Konkurrenz waren schneller«, sagte Tom und dachte, dass es vielleicht doch nicht gut für ihn war, vor dem Aufstehen schon Chandler zu lesen.
     
    Man ahnt es: Dieser Tag veränderte Leben. Zumindest das von Wladimir. Und das von Desdemona natürlich auch.
    Drei Tage musste er im Krankenhaus bleiben. Tom fuhr jeden Tag kurz bei ihm vorbei.
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