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Somniferus

Somniferus

Titel: Somniferus
Autoren: Michael Siefener
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meinen Onkel Jakob, über Sterblichkeit (in Gedanken
hatte ich ihn schon unter die Erde verfrachtet) und Ewigkeit (eine
Horror-Vorstellung für mich), über den Wert von Sein und
Zeit und vor allem den Wert einer warmen Mahlzeit.
    Man mag mich hartherzig nennen, weil ich so abfällig
über meinen Onkel dachte, aber zu meiner Entlastung möchte
ich anfügen, dass er wirklich ein wahres Biest war. Er war der
jüngere Bruder meiner Mutter und hatte ihr zwei Dinge nie
verziehen: erstens, dass sie unter ihrem Stand geheiratet hatte (mein
Vater stammte aus einer in Deudesfeld ansässigen Bauernfamilie)
und mit ihrem Mann in das Sündenbabel Köln gezogen war, und
zweitens, dass sie sich fünf Jahre nach meiner Geburt von meinem
Vater getrennt hatte. Sie war immer wieder von meinem alten Herrn
geschlagen worden; er hatte sie gedemütigt und auf alle
erdenklichen Arten misshandelt, und schließlich hatte sie es
nicht mehr aushalten können. Verwunderlich, dass sie so
spät die Konsequenzen aus dieser unerträglichen Situation
gezogen hat. An meinen Vater habe ich somit nur sehr verschwommene
Erinnerungen: Ich sehe ihn wie einen schwarzen Berg vor mir aufragen,
einen Ledergürtel wie einen zitternden Tentakel in der Hand, und
ich höre die hohen Schreie meiner Mutter und ihr Weinen und
Wimmern. Und ich spüre noch immer das Brennen auf meinem
Rücken, wo mich der Gürtel jedes Mal traf.
    Du darfst die Familienehre nicht beschmutzen, hatte Onkel Jakob
damals zu meiner Mutter gesagt, als sie sich Hilfe suchend an ihn
gewandt hatte. Jedenfalls hat sie mir gegenüber diese Antwort
ihres Bruders bis zu ihrem frühen Tod vor acht Jahren fast jeden
Tag entrüstet und traurig zugleich wiederholt. Du hast ihn
geheiratet und damit vor Gott einen Bund mit ihm geschlossen, den nur
Gott selbst lösen kann, hatte Onkel Jakob bei den wenigen
Gelegenheiten, zu denen wir ihn in Manderscheid besuchten, stets
hinzugefügt. Onkel Jakob musste es wissen, denn er war
schließlich lange Zeit Priester und Pfarrer des Ortes
gewesen.
    Mir war er immer wie ein alttestamentarischer Patriarch
vorgekommen – feuerlodernd und zürnend. Als kleines Kind
hatte ich Angst vor ihm gehabt. Aber seltsamerweise schien er mich zu
mögen. Aus diesem Jungen wird einmal etwas ganz Besonderes,
pflegte er zu sagen und mir dabei mit seiner feingliedrigen Hand
über das störrische Haar zu streichen; es war eine beinahe
zärtliche Geste – die menschlichste, zu der er fähig
war. Doch auch diese mir unerklärliche Zuneigung konnte nicht
verhindern, dass sich meine Angst vor ihm in Abscheu wandelte, als
ich älter wurde. Ich begleitete meine Mutter immer seltener,
wenn sie auf der Suche nach ihrer Vergangenheit in die Eifel und zu
ihrem Bruder fuhr; stets kehrte sie mit verheulten Augen
zurück.
    Als Mutter starb, hielt es Onkel Jakob nicht einmal für
nötig, zu ihrer Beerdigung nach Köln zu kommen. Das konnte
ich ihm einfach nicht verzeihen. Seit jener Zeit hatte ich ihn nicht
wiedergesehen und auch kein Lebenszeichen mehr von ihm erhalten. Um
ehrlich zu sein: Ich hatte ihn so gründlich aus meiner Welt
entfernt, dass ich ihn vergessen hatte. Bis zu jenem Tag, an dem das
Schreiben des Notars in meinem Briefkasten lag.
    Schließlich kam der Bus, der sich zu meiner
Überraschung als recht modernes Gefährt herausstellte.
Dafür aber grenzte der Fahrpreis an Wegelagerei. Ich setzte mich
in die hinterste Reihe und nahm mir vor, die Fahrt möglichst
intensiv zu genießen.
    Wie lange war ich nicht mehr in der Eifel gewesen! Ich betrachtete
aufmerksam die Gegend, durch die wir fuhren. Zuerst war es eine
langweilige, breite Straße, die nach Wittlich führte. Dann
war es ein Gefühl aus behaglicher Ruhe und gleichzeitiger
Lebendigkeit, als der Bus den Ort durchquerte. Und schließlich
war es wie ein Eintauchen in eine Welt, die nur in meinen
Träumen und Geschichten existiert. Die Straße führte
über die Orte Minderlittgen und Großlittgen, vorbei an
dichten Wäldern und über Höhenzüge, von denen aus
man einen weiten Blick in das Land hatte. Doch dann stürzte sie
in ein enges Tal und schlängelte sich in vielen Serpentinen
hinunter in den dunklen und feucht wirkenden Grund, in dem Welt und
Traum zu einem Ende gekommen zu sein schienen. Erst als der Bus
langsam und brummend wieder in die Höhe stieg, wich die seltsame
Beklemmung, die mich in diesem Talgrund befallen hatte. Nach
ungeheuer steilen und engen Kurven, die eher in die Alpen als in die
Eifel passten, erreichte
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