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Somniferus

Somniferus

Titel: Somniferus
Autoren: Michael Siefener
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sich
plötzlich gerade in seinem Sessel auf, strich mit der Hand
über die dichten, silbernen Haare und sagte leise: »Es
bleibt Ihnen noch immer die Wahl. Sie müssen dem Willen Ihres
Onkels nicht folgen.«
    »Wie soll ich das verstehen?«
    »Sie müssen seine Verfügungen nicht annehmen. Sie
haben immer noch die Freiheit, jetzt aufzustehen, sich von mir zu
verabschieden und nach Köln zurückzureisen.«
    »Würden Sie mir dazu etwa raten? Ein Haus und eine halbe
Million Euro in den Wind zu schreiben und mein elendes Leben
weiterzuführen?«
    Der Notar saß wie eine Statue da. Nichts an ihm zeigte, dass
er noch lebte. Kein Muskel bewegte sich in seinem Gesicht. Er war der
perfekte Pokerspieler. Ich überlegte. Nun gut, die Umstände
waren mehr als seltsam. Aber heißt es nicht, dass sich das
Glück manchmal absonderlicher Wege bedient? Sollte ich wirklich
mein Glück von mir stoßen? Sollte ich als verkannter
Schriftsteller weiterleben und jeden Morgen bang vor Hoffnung und
Angst zum Briefkasten schleichen? Sollte ich weiter die
Klavierstunden des Herrn Grausner, das dreckige Lachen der Frau
Müller und die Ekelhaftigkeiten all der anderen Hausbewohner
ertragen? Hier bot sich die einmalige Gelegenheit, aus meinem Leben
– und aus mir selbst – auszubrechen, und war es nicht das,
was ich mir in meinen verrücktesten Träumen immer
vorgestellt hatte? Nun gut, ich hatte in diesen Träumen mein
Ziel auf völlig anderen Wegen erreicht, aber sagt man nicht
auch, dass Gottes Wege unergründlich sind?
    Ich tastete in der Tasche meiner Windjacke nach den drei
Schlüsseln. Sie fühlten sich so gut an, schienen geradezu
in meine Hand zu springen und sich an die Haut zu schmiegen. In ihnen
– und in der Bankvollmacht – lag meine Zukunft.
    Aber was für eine Zukunft würde es sein? War sie
wirklich so rosig, wie das Geld und das Haus es versprachen? Warum
war der Notar so zögerlich? Was wusste er? »So sagen Sie
doch etwas«, forderte ich ihn auf.
    Er räusperte sich, dann meinte er fest: »Es ist Ihre
Entscheidung. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«
    »Also gut, ich nehme dieses Pseudoerbe an.«
    Er stand auf und streckte mir die Hand entgegen. Ich erhob mich
ebenfalls und ergriff sie. »Ich wünsche Ihnen viel
Glück«, sagte er.
    Es klang sehr ehrlich. Und es klang so, als würde ich dieses
Glück dringend benötigen.
     
    * * *
     
    Ich machte mich sofort auf den Weg nach Manderscheid. Im Bus
stellte ich mir vor, wie ich von meinem neuen Haus Besitz ergreifen
würde, und alle Bedenken waren bald vergessen. Die Neugier
fraß mich unbarmherzig auf.
    Ich stieg am Ceresplatz aus und ging langsam die
Kurfürstenstraße hinunter, die in die Richtung des alten
Ortskerns und der Kirche führt. Die Eifeler Bauernstuben waren noch da; dorthin hatte Onkel Jakob uns jedes Mal zum Essen
eingeladen. Die Stunden in diesem Restaurant waren die Glanzlichter
unserer Treffen gewesen. Doch vieles andere hatte sich gewandelt: Die
Post gab es nicht mehr, auch nicht mehr den Delta- Supermarkt
gegenüber dem Hotel Zens, das allerdings als erstes und
ältestes Haus am Platze noch immer mit seinem wunderbaren
Glyzinienbewuchs prunkte. Das Hotel Fischer-Heid hingegen war
verschwunden; es war zu Wohnungen umgebaut worden. Der Platz vor dem
Rathaus im zaghaften Eifeler Renaissancestil kam mir verändert
vor, und dort, wo die Kurfürstenstraße scharf nach rechts
abbog und als Grafenstraße auf Niedermanderscheid
zuführte, war keine Metzgerei mehr, sondern ein Imbiss. Ich lief
die steil abfallende Kurfürstenstraße weiter geradeaus,
überquerte die Mittelstraße und bog schließlich nach
rechts in die Burgstraße ein, hinter der nur noch ein paar
Gärten über einem zerklüfteten Abhang lagen, der zum
Tal der Lieser hinunterführte.
    Das Haus mit der Nummer 16 auf der linken Straßenseite war
mein Ziel. Es war noch genauso, wie ich es in Erinnerung hatte: ein
zweistöckiges, weiß getünchtes Gebäude mit den
eifeltypischen roten Sandsteineinfassungen um die Sprossenfenster;
das letzte in der Reihe, an das sich rechts der Stall mit dem
großen Scheunentor anschloss. Daneben lag eine kurze
Stichstraße, die als Parkplatz für das letzte Haus der
Straße – eine der vielen Pensionen des Ortes –
benutzt wurde.
    Ich blickte die Straße hinauf und hinunter. Einige Autos
standen eng an die Häuser gedrückt; irgendwo bellte ein
Hund; ansonsten war es sehr still hier. Auch aus dem Restaurant
gegenüber meinem neuen Haus drang kein Laut. Aber es war
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