Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Somniferus

Somniferus

Titel: Somniferus
Autoren: Michael Siefener
Vom Netzwerk:
eine
gelassene, eine heitere Stille. Die kleine Pension neben dem
Restaurant hatte einen schier unglaublichen Geranienschmuck angelegt,
der Himmel über der Straße war frühlingsblau und nur
mit einigen Wattewölkchen durchtupft, der Geruch von Braten lag
in der Luft. Er machte mir meinen Hunger bewusst; ich hatte heute
noch nichts gegessen.
    Ich holte den BKS-Schlüssel aus meiner Windjacke und schloss
die moderne, verglaste Aluminiumtür der Nummer 16 auf.
    Dann trat ich in ein anderes Leben. In die Dunkelheit.

 
3. Kapitel
     
     
    Eine Woche lang lebte ich wie ein Märchenfürst. Das Haus
meines Onkels hielt einige Überraschungen bereit. Als ich mich
nach meinem ersten Eintreten an die dunklen Tapeten und
Holztäfelungen gewöhnt hatte, sah ich immer neue Wunder.
Ich entdeckte die enge Kapelle, auf deren bleiverglastem Fenster der
Sturz der Engel dargestellt war. Ein kleiner Altar mit einem schmalen
gotischen Triptychon darauf stand vor der Rückwand des Raumes
und wurde von einer Betbank sowie einem Lektionar in der Form eines
Adlers flankiert. Es roch nach Weihrauch. Ich konnte mich nicht
erinnern, als Kind je in diesem Raum gewesen zu sein. Auch die
Bibliothek, durch deren Fenster ich in der Ferne die Ruinen der
Oberburg und der Niederburg sah, war als Kind für mich tabu
gewesen. Ich schlich an den Regalen entlang und fühlte mich wie
ein Eindringling. Sollte all das jetzt wirklich mir gehören? Und
dann kamen die Fragen zurück, die mich schon bei dem Notar
bedrängt hatten. Warum hatte Onkel Jakob Selbstmord verübt?
Warum hatte er alles so arrangiert, dass seine Leiche nicht gefunden
werden konnte? Warum hatte er mich als seinen »Erben«
eingesetzt, wo wir uns doch seit so langer Zeit nicht mehr gesehen
und nie ein sehr gutes Verhältnis zueinander gehabt hatten? Die
Bücher meines Onkels verwunderten mich ein wenig. Natürlich
fand ich etliche theologische Werke, zum Teil in sehr alten und
seltenen Ausgaben, aber ein weitaus größerer Teil seiner
Bibliothek war anderen, dunkleren Themen gewidmet. Ich entdeckte bei
einer sehr oberflächlichen Durchsicht viele Werke über
Hexenwesen, Magie, Alchimie und Gespenstererscheinungen, über
Werwölfe und Vampire und all die anderen Schreckgestalten, mit
denen längst vergangene Generationen ihre Ängste vor der
Dunkelheit und vor dem ihnen unverständlichen Leben
ausgedrückt hatten. Was hatte Onkel Jakob in diesen
absonderlichen Büchern gesucht? Schließlich wurde mein
Hunger stärker als meine Neugier und ich hörte auf, das
Haus weiter zu durchstöbern. Ich hatte zwar kein Geld mehr
– der Bus nach Manderscheid hatte den letzten Rest meiner
bescheidenen Barschaft aufgefressen –, aber ich besaß ja
die Vollmachten für das Sparbuch und das Konto meines Onkels.
Also machte ich mich auf den Weg zur Manderscheider
Kreissparkasse.
     
    * * *
     
    »Sie sind der Neffe? Was sagen Sie da? Umgebracht? Das kann
ich einfach nicht glauben. Warten Sie bitte einen
Augenblick.«
    Der junge Sparkassenangestellte verschwand in einem Hinterzimmer
der kleinen Filiale und kam nach wenigen Minuten mit einem
älteren Herrn mit Hornbrille und einem etwas verstaubten
Aussehen wieder an den Schalter zurück. Der Herr mit der
Hornbrille hielt mir über dem Tresen die Hand hin und sagte:
»Es tut mir Leid, dass wir uns unter so unschönen
Umständen bekannt machen müssen, Herr Weiler.«
    Ich schüttelte seine kalte und beinahe knirschend trockene
Hand.
    »Wie konnte das geschehen? Ich habe Ihren Herrn Onkel nicht
gerade sehr gut gekannt, aber er machte auf mich nicht den Eindruck
eines Selbstmordkandidaten.«
    Ich erklärte dem Filialleiter, dass auch mir die ganze
Angelegenheit ein Rätsel sei.
    Darauf sagte er: »Ihr Herr Onkel war – wie soll ich mich
ausdrücken? Er war bei uns nicht allzu beliebt. Ich habe ihn
noch als Pfarrer erlebt. Er war etwas – streng, wenn Sie
verstehen, was ich meine.«
    »Das kann ich mir lebhaft vorstellen«, gab ich
zurück und konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen.
Für Onkel Jakob hatte die Menschheit aus zwei Klassen bestanden:
aus derjenigen, die in die Hölle kam – worunter er beinahe
die gesamte Bevölkerung dieses Planeten zählte – und
aus jener, der der Himmel versprochen war: aus Geistlichen wie ihm
selbst und einigen wenigen anderen Auserwählten. »Meine
Familie hatte ihre liebe Not mit ihm. Kann ich denn nun sein Geld
haben oder nicht?« Der Hunger machte mich ein wenig
ungeduldig.
    »Aber selbstverständlich«, beeilte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher