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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
Autoren: Walter Kempowski
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ganzen«Sirius»gesprochen. Ich hörte mir heute beim Kaffee eine Kassette an, war zuerst etwas verdutzt wegen der fremden Stimme, dann aber doch sehr angemacht, weil meine Texte, so fremd gesprochen, mir ganz unbekannt – neu! – vorkamen. Ich dachte immer: Donnerwetter, das ist ja gut! Leider hinderte mich ein leichter Kopfschmerz am Genuß, und außerdem wurde ich von der lieben Melanie gestört, die ein Wort nicht lesen konnte und deshalb angerannt kam.
     
    Eine Frau Lee kopiert hier für Hagen einige Biographien. Wir haben den Kopierer in den Archivgang gestellt, damit sie ungestört... Nur, ich spiele da natürlich Klavier, und ich mache das abends, und ich denke dann, daß sie vielleicht aufhört mit Kopieren und zuhört mit offenem Mund. Leider tat sie das nicht, sie schlich sich davon und setzte sich nach oben und aß ein Butterbrot. Shame! Sie konnte es nicht ertragen. Für diese Menschen ist«klassische Musik»ein Vorwurf. Oder einfach Gedudel.
    20 Uhr
    Eben kam in der«Tagesschau»die Nachricht, daß bis Ende des Jahres die SU aufhört zu existieren. Und niemand schießt ein Feuerwerk!
    Auch die Kirchenglocken werden nicht geläutet. Das würde unseren sozialistischen Pastoren nicht im Traum einfallen. Ich möchte mir gern mal Filme mit kommunistischen Paraden ansehen, Triumphexzessen, und die tumben Visagen der westdeutschen Träumer und mir ihre verfaulten Zukunftsprophezeiungen anhören. Wie sie alles schönredeten! und wie sie uns boykottiert haben! Nicht mich allein.
     
    «Mein Herr, was haben Sie gegen die Italiener?»
    «Daß sie jährlich 200 Mio. Singvögel töten, das erbittert mich.»
    «Und die Deutschen?»
    «Sie schämen sich dafür.»
     
    Ein Häuflein Demonstranten vor der chilenischen Botschaft in Moskau, einer skandiert sogar was. Da! Am Fenster! Ist dort nicht ein Schatten? Das Blitzlicht bringt es an den Tag, mit glühenden Augen und gesträubten Haaren: Das ist das letzte Bild, ein Mensch, der verbrennt, ohne Asche zu hinterlassen. Honecker.
    Weltgeschichte vom Fenster aus: Hitler am 30. Januar, und in Prag haben sie die Leute hinuntergeworfen.
     
    Meine Versuche, sozial-realistische Bilder zu kaufen, sind leider von Mißerfolgen -«gekrönt»kann man ja nicht gerade sagen. Ich hätte gern einen Fries, eine Parteiversammlung (wie das Heilige Abendmahl) oder Werktätige beim Arbeiten.
     
    Es wird diskutiert, wann auf dem Kreml die roten Sterne gegen das Zarenkreuz ausgetauscht werden.
     
    Die Gewerkschaften haben 9,8% mehr Lohn gefordert. Die wollen auch gern mal Achterbahn fahren.
    Es wurde ein alter Film gezeigt, auf dem mehrere Maler zu sehen sind, wie sie die Leiche Stalins abzeichnen. Im Vordergrund ein Mann mit Glatze. Auch Filmaufnahmen Lenins. Die geliebten Züge Lenins: ein listiger, hinterhältiger Zwerg, der Millionen auf dem Gewissen hat. Es gibt immer noch Leute hier im Westen, die auf ihn schwören. Sie wollen ihn ausgenommen wissen aus der Riege der Mörder.
    Was früher«gestern»hieß, das nennt man heute schon«Geschichte». Jeder neue Tag hat futuristische Züge. Und die Vergangenheit ist mit der Gegenwart verschmolzen.
     
    FAZ: Petersburg sei die«nach Westen gerichtetste Stadt»der
    SU.
     
    Ich hätte Lust, zu Sylvester nach Warnemünde zu fahren, in das Hochhaushotel, und dann um Mitternacht über die schwarze See gucken. Hildegard will das nicht, sie hält das für eine Macke.
     
    Hildegard hatte heute Gäste. Sie saßen am Kamin, und sie las ihnen was vor. Ich konnte nicht herausbringen, was es war. Um Kempowski handelte es sich nicht.«Ich habe keine Ausstrahlung», meinte sie hinterher:«Mit mir ist nichts mehr los.»
     
    Frikadellen.
    Zum Kaffee Schokoladenherzchen.
     
    Lese ein Buch über das lippische Kontingent in Napoleons Armee. Kleßmanns Entdeckung.
     
    Mitternacht
    Regen, etwas Wind. Ich liege und höre mir den Herrn Andersen an, wie er meinen«Sirius»liest. Ich rief ihn heute an, weil mir das solchen Spaß macht, und fragte ihn, ob ich ihm irgendeine Freude machen könne? – Ja, ein Bild mit Unterschrift. – Er kriegt keine Theaterengagements mehr und hält sich mit Lesen über Wasser.
    Der Regen – das ist wie in einem Schiff, eine lange Reise, Lichter spiegeln sich im Wasser.
     
    Im Archiv entdeckte ich ein Kästchen mit dem Nachlaß eines 1943 gefallenen Sanitätssoldaten, dem Sohn einer Witwe, Vater im WK I gefallen. Papiere vom Kauf eines Flügels. Ein Brief, in dem Ermahnungen stehen, wie man sich an der Front benehmen soll,
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