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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
Autoren: Walter Kempowski
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Zuidersee. Hildegard und ich waren die einzigen Passagiere im Flugzeug. Ob sie uns die Flugvorschriften erläutern soll? fragte die Stewardess, oder ob wir darauf verzichten?
     
    Nun wieder im deutschen Tränen-Dilemma. Nach einer Woche Krieg ist die Zeit der Zusammenfassungen gekommen, man reflektiert über die Art der Berichterstattung, weil’s nichts zu berichten gibt, außer immer dasselbe. Jetzt fällt es ihnen erst ein, daß dies schrecklich sei. Wohltuend der Herr Stürmer, der uns heute alles sorgfältig auseinanderpulte, und ein ehemals linker Soziologe, der nun für den Krieg ist.
    Wenn ich eine Alternative wüßte! Die Iraker lassen Millionen Tonnen Öl ab in den Persischen Golf: Was für eine Idee. Ironie der Geschichte: Die Kuwaitis selbst haben den Irak (gegen Persien) aufgerüstet. Wer Wind sät, wird Sturm ernten.
     
    Januar: Ich sah mir ein paar niederländische Winterbilder an, Kinder, die Schlitten fahren. – Sie sagen, es soll bald wieder so kalt werden, die Gletscher strecken ihre Zungen raus. Andere behaupten, es wird sehr warm werden, Winter ade. – Auf den Übersichtskarten ist Nartum immer fortgelassen, um uns rum geschieht’s.
     
    2007: Erwärmung der Erde ist jetzt Thema Nr. 1. Jahreszahlen werden genannt: 2020, 2050 ... Früher hatten wir weiße Weihnachten. Das ist uns auch schon aufgefallen, daß es die nicht mehr gibt. Aber der Wettermensch im Fernsehen sagt, die Temperaturzyklen verlaufen nach ganz anderen Gesetzen. Bei den entsprechenden Konferenzen nicken die Talk-Show-Gäste uns ernst zu: Jaja: So weit habt ihr es gebracht mit euren heizbaren Garagen. Sich selbst nehmen sie aus.

Nartum So 27. Januar 1991
     
    Es wird immer bedrohlicher. Nun hat Saddam H.«unkonventionelle»Mittel angedroht, nein: angekündigt.
    Schwappende Ölsee im Golf, flügelschlagende, halbtote Kormorane sind zu sehen. Was nun wohl die Muttis in Frankreich denken, die vom Exxon-Öl verklebte Enten und Gänse Stück für Stück mit Handwaschmittel säuberten?
    Grinsender Kriegsrat, hysterische Massen in Bonn, deren Sprecher sich nun doch drehen und wenden.
    In der SU das nahende Chaos. Es ist, als ob sich Europa als Kartenhaus erweist. Wir sollten zu Haus bleiben und die Luft anhalten. Uns einfach still verhalten.
     
    Im TV wird die sowjetische Weltraumstation gezeigt. So noch nie gesehen, das ist ja ein Riesending. Vielleicht wird die eines Tages an die Amis verkauft? Wie sie sich darin aneinander vorbeischlängeln. Hängen Drähte von der Decke. Und natürlich will jeder wissen, wie sie es mit dem Austreten machen. Und jedesmal wird das alberne Experiment mit dem schwebenden Bleistift gezeigt. Aber was sie da wirklich forschen, möchte man eigentlich auch gerne wissen.
     
    In Hamburg den Bautzen-Kamerad Herbert Michel getroffen, der seine Rückübersiedlung von Kanada nach Deutschland vorbereitet. Er war damals – 1968 – nach drüben gegangen aus Angst vor der Linken. – Im Zeichen Saddam Husseins sollte er vielleicht doch lieber drüben bleiben? – Michel war in Bautzen ein Gefängnisgewinnler, ein Haftgewinnler. Saß den ganzen Tag und lernte, Englisch natürlich sowieso, aber sogar Arabisch. Ich habe damals nur etwas Französisch gemacht.
    In der Nacht rätselhafter Telefonanruf von einem Menschen weither.«Salem aleikum», das habe ich immerhin verstanden.
    Gysi warnt vor Besatzermentalität der Westdeutschen in Thüringen und Sachsen. Auf die Idee, sich für das viele Geld zu bedanken, das wir da dauernd rüberschicken, kommt er nicht.
     
    FAZ-Fragebogen: Sten Nadolny möchte am liebsten ein Feldhase oder ein Mörder sein. Seine Lieblingsblume ist der Löwenzahn. Der hat’s mit Albrecht Dürer.

Oldenburg Mo 28. Januar 1991
     
    Stumpfsinn herrscht vor.
    Auf der Herfahrt nach Oldenburg allerlei Hiobsbotschaften: Öl fließt in den Sand, Milliarden Liter, und wir sparen jeden Tropfen, der irgend eingespart werden kann.
    Irakische Piloten sind mit 50 Flugzeugen in den Iran geflüchtet,«notgelandet». – Der oberste Moslem-Mullah hat Saddam H. verurteilt.
    Der Verdacht wächst, daß die Amis die Sache nicht«im Griff»haben.
    Trotz allem: Ich kann mir nicht vorstellen, wie man diesen Mörder anders hätte stoppen können. Nächstes Jahr hätte er Atomwaffen gehabt, wird gesagt. Gestern hat er angekündigt, er werde Israel vernichten. Na, das hätte er lieber nicht sagen sollen.
     
    Morgen muß ich nach Wismar und nach Rostock. Wie leicht sich das jetzt hinschreibt.
    Hildegard fragt, ob
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