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Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)

Titel: Somnia: Tagebuch 1991 (German Edition)
Autoren: Walter Kempowski
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frühen Flug haben sie mir verordnet, ich hätte um halb 6 aufstehen müssen!

Nartum Di 22. Januar 1991
     
    I904: Arkadi Gaidar («Timur und sein Trupp») geboren
    Geburtstag Großvater Collasius (1863).
     
    Fernsehnächte in Dunkelgrün und Braun, sprühende Feuerwerke. Alle Nachrichten doppelt und dreifach, und immer dieselben Bilder. Wer was Genaueres wissen will, muß CNN einschalten. Unsere Leute kommen auf gar nix.
    Saddam setzt Ölquellen in Brand. Da können sich die Heizölsparer in Deutschland nur wundern.
    Heute wurde der dritte Raketenangriff auf Israel gemeldet. Große Verdutztheit. – Fotos von gefangenen Amerikanern. Einer arg zugerichtet. – Ein anderer wurde aus der Wüste gerettet. – Schreiende Jüdinnen. Das Haareraufen und Kleiderzerreißen kommt dort unten wohl nicht mehr vor.
    Behäbige 3Sat-Runde in Moskau, die Lettland-Sache. Ein grinsender Großrusse dabei. Es wurde deutlich, daß Gorbatschow die russische Frage nicht lösen kann, wahrscheinlich kann es niemand. Unter Stalin habe es Kaviar gegeben, unter Breschnew drei verschiedene Wurstsorten, und nun gar nichts mehr.
    Ein grandioser Film, zusammengestellt aus Stummfilmstreifen, über die frühe SU und die Armenier.
     
    Simone fing heute wieder mit dem«Echolot»an. Früher hat sie mal gedacht, ich hätte gewiß nicht genug zu tun für sie.
    Sie sagt«Aus-schwitz».
     
    Oldenburg: 20 Studenten kamen.
    Ute hat erzählt, daß in Australien schreiende Menschen in Kirchen sich hysterisch gebärden.
    Gorbatschow: Je öfter man ihn sieht, desto weniger achtet man auf sein Muttermal.
    Wenn man die russischen Panzer sieht, die sie jetzt in Rostock verladen, dann kommt einem nachträglich das Grauen über diese Riesen-Verwalzungs-Maschinen.
    Saddam mit seiner Stalinschen Ruhe. Eine psychopathische Ruhe: Sie sollen ihn nur machen lassen, er hat alles im Griff. Bewegungen herabgemindert. Wie unter Drogen.
     
    Ich denke gerade an Locarno. Warum? Wieso? Wie lange ist das schon wieder her! Das hübsche italienische Serviermädchen,«Torte», das verstand sie nicht, daß wir ein Stück Torte haben wollten, obwohl es das Wort auch im Italienischen gibt und ich es ihr aufzeichnete, das Stück Kuchen.
    Augenschmerzen hatte ich wegen des hellen Lichts.
    Hunde auf dem Dach einer Villa und Papagei.
    Eine andere Art von Frühlingsempfindung. In den Steinspalten winzige Farne und Eidechsen.
    Zürich, Eisenbahnmuseum.
    Locarno: Das war mein«Süden». Zu mehr hat es nicht gereicht. Aber gut, daß wir uns damals aufgerafft haben. In diesen düsteren Tagen gleiten die Bilder von damals an uns vorüber. Warum gerade Locarno?

Nartum Mi 23. Januar 1991
     
    Sigrid Hunke in«Die Welt»:«Meint der Heilige Krieg tatsächlich den Kampf mit Feuer und Schwert?»- Was denn sonst, mein Kind?

Nartum Do 24. Januar 1991
     
    TV: Patriot-Raketen = neue Stars im doppelten Sinn. Eiskunstlauf. Da muß ich mich doch sehr wundern, daß diese jungen Menschen trotz hormonisiertem Schweinefleisch und vergiftetem Gemüse noch so gut beieinander sind. So eine Frau, wenn man die hochhebt oder sogar hochschmeißt, wobei sie sich dreht und Kußhändchen wirft – die wiegt doch bestimmt über einen Zentner! Diese Leute dürfen sich später nicht wundern, wenn sie einen Bandscheibenvorfall haben oder im Rollstuhl ins Stadion gefahren werden, um zuzusehen, wie sich ihre jungen Kollegen das Leben ruinieren.
     
    Anderes großes Thema: überall Dioxin in den Häusern. In jedem Türdrücker, in jeder Tapete. Hatten wir ja auch, ausgerechnet die Wand neben meinem Bett!

Brüssel Fr 25. Januar 1991
     
    Zwei Tage in Brüssel wegen einer EG-Sache mit Hildegard und Renate. Die Leute wollen von mir Zuspruch, ausgerechnet von mir! Schwierige Landung wegen Nebels. Kriegte die Panik. Wir liefen in den Straßen umher, Hotel Métropole, ich freute mich über das schöne Fin-de-siècle-Hotel, leider bumsten die Zimmernachbarn gegen die Türen links und rechts. Ich weiß nicht, was sie da anstellten, wahrscheinlich Geschlechtsringkämpfe jeder Sorte.
    Renate und Hildegard fuhren nach Gent weiter wegen eines Trickfilmkursus. Hildegard freute sich, endlich den Genter van-Eyck-Altar zu sehen.
    Auf Flohmarkt kaufte ich vier Fotoalben und DDR-Fotos. Reste eines Buntglasfensters (fleur de lis).
     
    2006: Wir setzten es in die Turmtür ein.
     
    Im Hotel stahl man Renates Nachthemd. Der Manager: Da kann er auch nichts machen.

Nartum Sa 26. Januar 1991
     
    Rückflug wie Geographiestunde über die
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