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Sommerstueck

Sommerstueck

Titel: Sommerstueck
Autoren: Christa Wolf
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sahen, deren Schreie sie aber hören konnten, durch Stromstöße zu foltern. Daß es gar keine Gefolterten gab. Daß die Schreie simuliert waren. Daß gar kein Strom durch die Leitungen lief – darauf kam es nicht an. Es kam darauf an, daß die Versuchskaninchen das alles glaubten. Und daß sie trotzdem weitermachten, wenn der Experte es ihnen befahl, weitermachten fast bis zum eigenen Zusammenbruch. Und daß nur ganz wenige sich weigerten, die Stromdosis über einen bestimmten Punkt hinaus zu erhöhen. Und daß keiner die angeblichen Wissenschaftler in ihren weißen Kitteln in Frage stellte oder gar angriff. Was ist das? fragten wir uns ratlos, und jeder für sich fragte sich, was er getan hätte. Eine Art Scham hinderte uns, lange darüber zu reden.Es lag ja auf der Hand: Wenn es Leute gibt, denen solche Experimente einfallen, und wenn es ihnen erlaubt ist, sie durchzuführen, und wenn das unter der Bezeichnung Wissenschaft läuft – das wäre der Anfang vom Ende. Wozu das bereden?
    Ebensogut konnten wir noch mal eines unserer Spiele spielen, das oft schön gewesen war, erheiternd, sogar erhellend. Wir versteiften uns darauf. Wir wollten die alte Ungezwungenheit noch einmal erzwingen, wir wollten noch einmal so frei sein, die anderen und uns selbst zu ironisieren, noch einmal sollte die Überzeugung, daß keiner dem anderen übelwollte, uns tragen. Es ging nicht gut. Das Spiel ist bekannt: Einer geht vor die Tür, die anderen bestimmen eine Person aus dem Kreis, nach der gefragt werden soll. Was wäre, fragt zum Beispiel der, der vor der Tür stand, was für ein Weg wäre die Person? Was für ein Baum? Was für eine Pflanze? Welches Gericht? Was für eine Straße? Was für ein Wasserlauf? Welches Tier? Es ging ja an, wenn Bella auf diesem Umweg Ellen eine Kuh nannte – es war ja was dran, alle lachten, Spielverderber war doch keiner von uns, zwar waren wir nicht hart im Nehmen, aber jedenfalls taten wir so, das gehörte zum Spiel. Und daß Littelmary, als sie für Luisa eine Pflanze suchen mußte, die Malve fand, das gefiel uns allen sehr. Das war noch einmal schön und gut. Doch man konnte auch zu weit gehen. Man konnte auch eine unsichtbare Grenze überschreiten, wie zum Beispiel Jan, den Irene fragte, was für eine Art Weg die gesuchte Person wäre, und der darauf wie aus der Pistole geschossen erwiderte: Ein Labyrinth. Woraufhin Irene sofort sich selbst erkannte und lange und laut lachen mußte. Auf einmal – habt ihr esauch so empfunden? – bewegten wir uns in der hellen Stube auf einer Bühne, und an den Fenstern, hinter den blühenden Geranien, drückte sich ein schweigender unbestechlicher Zuschauer die Nase platt. Bösartig war er nicht, er war nicht einmal spöttisch oder ablehnend. Er war nur da. Wie konnten wir ihm vorwerfen, daß er alles verdarb? Daß wir das Spiel abbrechen mußten? Daß er unsere Verkleidungs- und Verstellungskünste als das durchschaute, was sie waren, letzte Barrieren gegen die Einsicht, daß es dahinter für uns nichts gab. Wir machten uns natürlich nicht lächerlich, indem wir über dieses Nichts ein Wort verloren. Ganz im Gegenteil, wir verstiegen uns noch einmal in träumerische Pläne. Gemeinsam ein Buch schreiben. Worüber? Ein Kriminalfall, natürlich, heute und hier. Sechs Anfänge wurden auf der Stelle entworfen. Ein zugkräftiger Name für den kollektiven Autor gefunden, zu dem jeder eine Silbe oder einen Buchstaben seines Namens beisteuerte – wie früher die alten Meister, die ihren eigenen Namen hinter den ihrer Werkstatt stellten. Aber heute ist nicht früher, sagte Bella. So frei sind wir nicht. Aus irgendeinem Grund geriet in das Buch eine Liste der Dinge und Zustände, mit denen wir uns abgefunden hatten – die wurde lang. Und dann der Versuch, eine Liste der Dinge aufzustellen, mit denen wir uns nie abfinden würden, unter keinen Umständen. Da hatten wir schon Mühe, einige Posten zu finden, die auf jeden von uns zutrafen, und darüber gerieten wir endlich noch einmal in einen gesunden Streit.
    Gar nichts war geschehen, wer nachträglich nach Mißgriffen oder Einbrüchen suchen wollte, ginge fehl, es war nur die Bedeutung aus den Dingen und Vorgängengewichen, das übertrug sich auf die Personen, so daß sie sich nicht mehr recht ernst nehmen konnten. Jeder von ihnen hatte den Blick des Stummen Gastes bis auf die Knochen gespürt. Nicht nur das Spiel dieses Abends, ein größeres Spiel war mißlungen. Vielleicht hatten sie den Einsatz auch eine Spur zu
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