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Sommernachtsschrei

Sommernachtsschrei

Titel: Sommernachtsschrei
Autoren: Manuela Martini
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fällt sie mir schluchzend um den Hals.
    Und dann, erst ganz langsam und dann unaufhaltsam, drücken sich Tränen aus meinen Augen.
    Wir stehen eine Weile so da, uns gegenseitig umarmend und weinend.
    »Es tut mir so leid«, bringt Leonie schließlich hervor. »Wie schrecklich muss es für dich…«, sie stockt, »… dort gewesen sein.«
    Sie kann es nicht sagen, das Wort. Auch mir fiel es anfangs schwer: Gefängnis.
    »Bitte, bitte, verzeih mir!« Sie schluchzt laut. Hinter ihr dreht sich ein Arbeiter in orangefarbenem Overall nach uns um.
    »Wofür?«
    Sie sieht mich an, noch immer schluchzend. Und ich muss an unsere Band denken. The Fling nannten wir uns. Es ist wie eine Erinnerung an eine andere Zeit. Lichtjahre her.
    »Was soll ich dir verzeihen?«, frage ich noch mal.
    Sie schluckt. »Dass… dass ich dich nicht besucht habe.«
    »Deine Eltern haben es verboten…«, wende ich ein.
    »Trotzdem«, sie schüttelt seufzend den Kopf, dann stiehlt sich ein Lächeln in ihre Augen, die noch feucht glitzern. »Wäre ja nicht das erste Mal, das ich was Verbotenes gemacht hätte«, murmelt sie und sieht mich dabei schief grinsend an.
    »Mach dir keine Vorwürfe, Leonie. Es ist vorbei.«
    Ihr Blick wird weich. »It’s over?«
    Ich nicke. »It’s over.«
    It’s over.
Wir haben’s geschafft.
Wir haben’s gemacht.
Wir sind manchmal blind.
Es ist die Zeit, die uns zeigt,
wer wir sind.
    Eine Strophe eines Songs unserer Band. Leonie hatte die Musik komponiert und ich den Text geschrieben. Maya spielte Bassgitarre und Vivian Schlagzeug. Wir traten bei Veranstaltungen unserer Schule und dann auch bei ein paar Sportveranstaltungen in der Gegend auf. Die Mädchenband vom Augustinus-Gymnasium in Kinding. The Fling.
    Leonie tupft sich die Tränen ab, während sie die Melodie unseres Liedes summt und einen Autoschlüssel aus der Tasche zieht. »Fahren wir.«
    Irritiert schaue ich sie an. Leonie wird erst in einem halben Jahr achtzehn. Sie ist ein Jahr älter als ich, weil sie einmal eine Klasse wiederholt hat. Trotzdem hat sie den Führerschein schon und darf in Begleitung ihrer Eltern fahren.
    »Dein eigenes?«, frage ich, als sie den Schlüsselbund lässig um ihren Zeigefinger schwingt, und spüre wieder den altbekannten Stich in meinem Herz.
    »Nein, mein Auto kommt erst nächsten Monat, irgendwas hat mit den Lieferzeiten nicht hingehauen.« Sie kichert.
    »Hast du dir eine Speziallackierung bestellt, oder was?«, frage ich.
    »Mhmm«, sagt sie und ihre Augen leuchten. »Cabrio. Tahiti Blau mit weißem Verdeck und weißen Ledersitzen!« Ihr Kopf zittert ein bisschen wie immer, wenn sie plötzlich von etwas begeistert ist. »Nicht schlecht, oder?«
    »Cool«, sage ich und stelle mir vor, wie Leonie mit wehendem Haar in diesem Auto durch Kinding fährt.
    »Zuerst fahr ich damit nach München!«, verkündet sie und bleibt auf dem Parkplatz vor einem silbernen Mercedes SL stehen und öffnet mit einer selbstverständlichen Geste die Türen mit der Fernbedienung. »Du weißt ja, meine Eltern sind nicht da. Dad hat einen Preis in Toronto gekriegt und danach haben sie sich für eine Woche ein Blockhaus an irgendeinem einsamen See dort gemietet.« Sie verdreht die Augen. »Immerhin haben sie dort ein Wasserflugzeug. Mein Dad war schon ganz aufgeregt, weil er mal wieder selbst fliegen darf.«
    Als wir letzte Woche telefoniert hatten, hatte sie mir erzählt, dass ihre Eltern verreisen würden und ich deshalb bei ihr übernachten könnte. Zuerst war ich beleidigt, als Leonie mir sagte, dass ihre Eltern nichts von meinem Besuch erfahren sollten. Doch dann war ich sogar froh darüber. So ersparte ich mir wenigstens ihre verächtlichen, abweisenden Blicke und verletzenden Bemerkungen.
    Selbst bevor es passiert ist, mochten sie mich nicht. In ihren Augen war ich die Tochter spießiger, langweiliger, ordinärer Tankstellenpächter. Kein Umgang für ihre Leonie und ihre Freundinnen, für die es das Normalste auf der Welt war, reiten und segeln zu gehen oder Golf zu spielen, die in den Ferien zum Sprachkurs nach London oder Paris geschickt wurden und zum Achtzehnten ein Cabrio geschenkt bekamen.
    »Aber offiziell darfst du doch gar nicht allein fahren…«, sage ich, als ich neben Leonie auf dem Beifahrersitz sitze.
    »Nein, natürlich nicht«, sie zwinkert mir zu und dreht die Musik lauter, »aber das kleine Risiko kann ich schon eingehen.«
    Ich schnalle mich an, lehne mich zurück und wünsche mir, die Fahrt würde ewig dauern. Aber Kinding
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