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Sommernachtsschrei

Sommernachtsschrei

Titel: Sommernachtsschrei
Autoren: Manuela Martini
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wende ich den Blick ab.
    Blau. Nicht braun. Zum Glück.
    Maurice hatte dunkelbraune Augen. Maurice… wenn ich an ihn denke, krampft sich in mir alles zusammen.
    »Sprichst du Deutsch?«, fragt er, ohne zu lachen, und sieht von seinem Notebook auf.
    Er meint es ernst, kann es wohl nicht ertragen, wenn man sich nicht mit ihm unterhält, dabei gibt er sich doch solche Mühe.
    »Immer noch, ja«, antworte ich.
    Er lacht, verstummt wieder. Sieht mir in die Augen.
    »Ich heiße Benjamin.« Er räuspert sich. »Wenn du willst… ich meine, du musst ja nicht… dann kannst du mir auch… äh… deinen Namen sagen.«
    »Paula«, lüge ich. Habe ich mir angewöhnt. Mit einem falschen Namen kann ich mich unschuldig fühlen.
    »Paula? Schöner Name.« Dann weiß er nicht weiter.
    Erstaunlich, wie schnell man manche Menschen verunsichert, wenn man nicht so reagiert, wie sie es erwarten.
    Hi, ich heiße Franziska. Meine Freunde nennen mich Ziska. Was machst du, Benjamin? Du fährst nicht zufällig auch nach Prien, in die Provinz, was? Welche Musik hörst du? Echt cool… blablabla…
    Fahrerwechsel. Fahrkarten vorzeigen. Meine Hand zittert, als ich der Zugbegleiterin meine Karte gebe. Sofort denke ich an die morgendlichen und abendlichen Appelle, als man sich vor seiner Zellentür aufstellen musste und durchgezählt wurde.
    Man… ich schreibe schon wieder man. Dr. Pohlmann hat mir erklärt, dass ich das tue, weil ich mich damit distanzieren will, von der Person, die das alles durchgemacht hat. »Versuche, diese Person anzunehmen und zu lieben, egal, was sie getan hat. Erst dann kannst du wieder leben«, hat sie zu mir gesagt.
    Ich kann mich nicht annehmen. Ich fürchte mich sogar vor mir.
    »Wir haben etwa zehn Minuten Verspätung in Prien«, sagt die Zugbegleiterin und lächelt mich an.
    »Du fährst auch nach Prien?«, fragt Benjamin mich, als die Schaffnerin weitergegangen ist.
    »Ja.«
    »Kennst du Prien?«, fragt er weiter.
    »Ja.«
    »Wirklich? Super! Ich hab dort einen Job bekommen. Aber ich war erst einmal zum Vorstellungsgespräch da. Viel scheint in Prien ja nicht gerade los zu sein. Ich hab keine Ahnung, was man da so machen kann. Am Wochenende, meine ich.«
    »Baden gehen«, sage ich, ohne nachzudenken. Und schon überfallen mich die Bilder vom Lagerfeuer am See, vom Bootshaus, vom Mond über dem Wasser. Er war voll. Eine glänzende, goldene Münze… Auch dieses Jahr ist zur Abschlussparty Vollmond, ich habe schon im Kalender nachgesehen.
    »Cool. Ja, der See ist perfekt«, sagt er.
    »Perfekt. Perfekt für was?«, bricht es aus mir heraus. Ich erschrecke vor meiner eigenen Lautstärke. Perfekt für einen Mord?
    »Äh… für…«
    Ich habe ihn total verunsichert. Ihn, der wahrscheinlich sonst nur mit seinem beringten Finger schnippen oder sein blondes Haar schütteln muss, und schon werfen sich die Mädchen an seinen Hals. Ich merke, wie Wut in mir aufsteigt.
    Er wartet darauf, dass ich nett bin. Dass ich lächle, damit er dann auch lächeln kann, was ihn erleichtern und sich wieder gut fühlen lassen würde.
    Ohne eine Erklärung drehe ich mich zum Fenster. In meinem früheren Leben hätte ich längst Herzklopfen gehabt und wäre nervös gewesen, weil mich so ein cooler Typ anspricht. Jetzt bedeutet es mir nichts mehr. Das letzte Jahr hat mich härter gemacht.
    Er schweigt.
    Also… wo war ich stehen geblieben? Ich blättere in meinem Notizbuch und überfliege die geschriebenen Seiten. Doch ich kann mich nicht mehr darauf konzentrieren. Ich klappe das Heft zu, lege den Stift beiseite und sehe aus dem Fenster. Lasse die Landschaft vorbeiwischen. Die zwei Wochen im Gefängnis haben mich ausgehungert. Nach Farben und Tönen und anderen Gerüchen als denen nach Schweiß und billigen Parfüms. In meiner Zelle war ein Mädchen, deren Namen ich vergessen habe. Aber ich kann mich noch genau daran erinnern, dass sie jeden Morgen dieses ätzende, billige Parfüm benutzt hat. Wie früher vielleicht, als sie sich jeden Morgen für ihren Job als Supermarktkassiererin fertig machte. Das Parfüm war ein Teil ihrer Identität, an die sie sich verzweifelt klammerte, um sich in den grauen Gefängnismauern nicht ganz zu verlieren. Ich habe ihr Parfüm noch immer in der Nase, obwohl es schon fast ein Jahr her ist.
    Ob das Mädchen wohl immer noch im Knast war? So wie Katie, die eine Haftstrafe von vier Jahren absitzen musste. Für Totschlag konnte man bis zu zehn Jahre bekommen. Mich musste man aus Mangel an Beweisen nach zwei Wochen
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