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Sommernachtsschrei

Sommernachtsschrei

Titel: Sommernachtsschrei
Autoren: Manuela Martini
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aus der Untersuchungshaft entlassen. Wenn es nach Kommissar Winter geht, würde ich bald wieder eingesperrt werden. Für ihn ist es ein ungelöster Fall, der an seinem Ego nagt und den er zu Ende bringen will.
    Doch bevor ich wieder ins Gefängnis muss, will ich mich erinnern, was zwischen mir und Maurice passiert ist.
    Die Bremsen quietschen: Prien.

4
    Der Zug steht. Mir ist mulmig. Leonies SMS lautete: Hole dich ab. Die Frau vor mir hantiert an der Ausstiegstür. Und wenn sie es sich doch anders überlegt hat und in Kinding geblieben ist? Dann müsste ich hier in einen Bus steigen. Meine Handflächen sind feucht, ich wische sie an meiner Jeans ab.
    Da ist wieder dieses Gefühl in mir, es überfällt mich wie ein dunkler Schatten: Ich hätte nie hierherkommen dürfen.
    Nervös lasse ich meinen Blick über den Bahnsteig schweifen. Noch habe ich sie nicht entdeckt, aber das Türfenster ist zu klein und der Rücken der Frau, die immer wieder energisch den Türhebel nach unten drückt, verdeckt mir die Sicht.
    Die Tür geht auf, ich hänge meine Reisetasche um und steige die Stufen hinunter. Ich sehe mich um. Viele Abholer. Doch weit und breit keine Spur von Leonie. Vielleicht hat sie sich ja verändert, seit ich sie vor einem Jahr das letzte Mal gesehen habe, hat ihr dunkles, langes Haar abgeschnitten oder blond gefärbt, trägt keine engen Sachen mehr, sondern lässig weite…
    Mein Herz stolpert. Einerseits freue ich mich so, sie wiederzusehen, andererseits habe ich wahnsinnige Angst davor. Wird Leonie mich noch genauso umarmen wir früher? Ihre Mails und Briefe haben mich immer wieder aufgebaut. Sieh nach vorn, Franziska, haben sie und Maya und Vivian geschrieben, das Leben geht weiter.
    Plötzlich weiß ich, warum ich außerdem unbedingt hierherkommen musste, worum es hier auch geht: um Freundschaft. War es nicht das, was wirklich zählte? Die Briefe aus Kinding haben mir so viel gegeben, in der Zeit im Gefängnis und in der Klinik. Sie haben mir gezeigt, dass ich nicht alleine war.
    Und wenn es nur aus Mitleid war?, meldet sich sofort wieder die zweifelnde Stimme in meinem Kopf. Wenn sie sich nur bei mir gemeldet hatten, weil ich ihnen leidtat? Wie viel hält eine Freundschaft wohl aus? Auch einen Mord? Verzeihen sie mir? Verzeihen sie mir, dass ich einen Freund von ihnen getötet habe?
    Leonie hat Angst bekommen, denke ich auf einmal. Bestimmt. Plötzlich ist ihr klar geworden, dass sie unmöglich mit mir auf der Party auftauchen kann. Man wird sie mobben – und das würde noch das Harmloseste sein. Konnte unsere Freundschaft so viel Druck aushalten?
    »He, Paula«, höre ich eine Stimme rufen.
    Wie hieß er doch gleich? Richtig, Benjamin. Benjamin steht mit seiner Reisetasche und dem Laptop neben mir. Er ist ziemlich hartnäckig – und unerschrocken.
    »Soll ich dich vielleicht mit dem Taxi irgendwohin…«
    »Nein«, falle ich ihm ins Wort. »Ich werde abgeholt. Sie kommt ein bisschen später.« Warum sage ich das? Um mir damit selbst Mut zu machen?
    »Okay. Also…«
    Er geht noch immer nicht. Was will er denn noch? Er lächelt und zuckt ein bisschen verlegen die Schultern. »Wenn du mal einen Artikel von Benjamin Fischer liest, weißt du, dass ich der aus dem Zug bin. Chiemseer Echo.« Er muss lachen. »Du weißt schon, die ultimative Lokalzeitung hier, die, ohne deren Nachrichten man hier nicht überleben kann!«
    Ein schwaches Lächeln kann ich mir abringen. Früher hätte ich laut mit ihm gelacht und gehofft, dass er mich nach meiner Handynummer fragt. So sage ich nur »Okay«.
    Er geht, verschwindet im Gewusel in der Bahnhofsvorhalle und ich werfe wieder einen Blick auf mein Handy. Keine SMS. Bevor ich mir in meiner Fantasie noch länger ausmale, was Leonie dazu bewogen hat, ihre Entscheidung zu ändern, rufe ich sie lieber an.
    »Franziska!« Leonie kommt auf mich zugerannt. Ihr Haar ist immer noch lang und schwer und sehr dunkel. Während der letzten sonnigen Wochen hat sie garantiert jeden Tag am See gelegen, so braun, wie ihre Haut ist. Und wie immer sieht ihre Schminke aus, als hätte sie stundenlang vor dem Spiegel gestanden. Sie strahlt übers ganze Gesicht.
    Kurz vor mir bleibt sie stehen. Lässt die Schultern fallen, seufzt.
    Einen Moment lang stehen wir uns so gegenüber.
    Zum ersten Mal nach so langer Zeit spüre ich wieder ein Ziehen im Magen und in der Nasenwurzel. So wie früher, bevor ich weinen musste.
    »Mensch, Franziska, du bist so dünn geworden!«, bringt Leonie noch hervor, dann
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