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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt
Autoren: Antonia Michaelis
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Kreis wie ein übermütiger Windstoß, das tiefbraune, lange Kleid flog um ihre Knie und gab zwei ebenfalls perfekt geformte Beine frei. Jari schluckte.
    Schließlich stand sie still, schwer atmend, und bückte sich, um den Haufen Kleider in der Kiepe zu verstauen. Sie musste das Kleid mit Polstern ausgestopft haben, um die Illusion des Rippenbuckels zu erzeugen, die verschieden hohen Schuhe hatten ihren Gang wiegend und seltsam gemacht. Jari konnte nicht aufhören, den Kopf über die Täuschung zu schütteln. Er wollte lachen, aber das Lachen blieb ihm im Hals stecken. Ihre Schönheit nahm ihm den Atem.
    So, mein Kind, bist du nun noch sicher vor Jari, dem Verführer, Jari, dem Raubtier? Dem Raubtier, das zu ungeschickt ist und vielleicht auch zu schüchtern, um ein Raubtier zu sein … Oder ist er es, der nicht sicher vor dir ist? Er fühlte sich hilflos und unerfahren neben ihr, mehr noch als zuvor. Ein kleiner Junge, naiv, leicht zu täuschen. Der Wald war tief und nahm sie auf, als wäre sie ein Teil seiner selbst, ihre Schönheit ein Teil seiner Schönheit.
    Der Wald war tief, und er folgte ihr hinein.

Flammseide
    Sie wanderten lange so zu zweit durch den Wald. Der Boden stieg an und fiel wieder ab, steil hinauf und hinab führte der Pfad sie, zwischen Buchenstämmen hindurch, wo hohe Gräser im Wind schaukelten. Knorrige Eichen säumten den Weg; sie krallten ihre Wurzeln um runde Felsköpfe. An sumpfigen Stellen balancierten sie über umgestürzte Birkenstämme. Violette Blütenstauden ragten aus dem Wasser, hier und da eine gelbe Lilie. Jaris Mutter liebte Lilien, sie hatte ein ganzes Zwölferset an Servietten mit gelben Lilien bestickt.
    Jari beobachtete einen Frosch, der im feucht glänzenden Morast saß und ihn mit goldenen Augen ansah. »Bis wohin gehen wir zusammen?«, fragte er.
    »Das ist eine Frage, die nur du beantworten kannst«, sagte sie sanft und sprang leichtfüßig auf einen weiteren Baumstamm, eine weitere scheinbar zufällige Brücke durch den Sumpf. »Du bist ein Wanderer. Du kannst gehen, wohin du willst.«
    Er nickte. »Ich habe drei Wochen Zeit, mich gründlich in den Bergen zu verlaufen.«
    »Du hast bereits damit begonnen«, sagte sie und lachte. »Vorsicht!«
    Ihre Warnung kam zu spät, Jaris Füße rutschten auf einem glatten Stamm ab, und im nächsten Moment landete er rücklings im Sumpf. Sie watete auf ihren nackten Füßen zu ihm und streckte die schlanke Hand aus, um ihm hochzuhelfen. Die Berührung ihrer Finger war ihm beinahe unangenehm. Als sei dies bereits eine zu intime Geste, viel intimer als alles, was die namenlosen Mädchen in den schummrigen Ecken seiner Vergangenheit getan hatten. Er stand auf, sah an sich hinab; seine Jeans war getränkt mit dem Wasser des Moores. Er fluchte, und sie legte lächelnd den Finger an die Lippen.
    »Still, still.« Sie stand ganz dicht vor ihm und sah zu ihm auf. Ihre dunklen Augen waren wie das Moor. Man konnte nicht dahintersehen. »Wanderer«, sagte sie leise, »hast du auch einen Namen?«
    »Jari«, antwortete er. »Aber in der Lehre haben sie mich nur bei meinem Nachnamen genannt. Cizek. Der Zeisig.«
    »Ein Zeisig«, wiederholte sie nachdenklich und strich mit einer Hand durch sein Haar, das verklebt war vom Schlamm. Er musste aussehen wie ein kompletter Idiot. »Was ist ein Zeisig für ein Vogel?«
    »Er ist klein und unscheinbar«, sagte Jari. »Unbedeutend. Er tut nichts, als zu existieren. Er lebt in den Tag hinein. Nur wenn man ihm ein wenig näher kommt, bemerkt man die gelben Federn in seinem Kleid. Wenn man ihm näher kommt, ist er bunt.«
    »Und er fällt gern in den Schlick und macht sich diese schönen gelben Federn schmutzig«, sagte sie. »Aber ich mag sein Lied.«
    Er fing ihre Hand, als sie sie zurückzog, und die Berührung war noch immer wagemutig, obwohl es nur eine Hand war. Er hielt sie fest. Und in seinem Kopf standen glasklar, gestochen scharf die Worte: Ich flirte. Ich flirte mit einem Mädchen im Wald, dem schönsten Mädchen der Welt. Das war nicht der Plan. Sie wird gehen, in ihr Dorf, und ich bin erst am Anfang meiner Wanderung.
    »Und wie heißt du?«, fragte er.
    »Jascha.«
    »Jascha?« Er schüttelte den Kopf. »Das ist ein Männername.«
    »Nicht nur. Es ist auch ein Name für eine Frau. Wenn man im Wald ganz auf sich gestellt ist, muss man manchmal ein Mann sein und manchmal eine Frau … Es gibt so viele Dinge, die nur ein Mann tun kann!«
    Sie riss sich los und lief weiter, ihr Lachen neckisch,
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