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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt
Autoren: Antonia Michaelis
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der schmalen Straße, die nicht einmal einen Bürgersteig besaß, stand dem Mädchen gegenüber. Er hatte eine Hand ausgestreckt, um ihr die Kiepe abzunehmen, doch sie reagierte nicht, sie sah ihn nur an, und er verharrte in der Bewegung, verunsichert. Ihre kleinen Augen hinter den dicken, übergroßen Brillengläsern musterten ihn von Kopf bis Fuß, als könnte sie ihn erst hier draußen, außerhalb der Galerie, richtig erkennen. Es war ihm unbehaglich, auf diese Weise gemustert zu werden. Was guckst du mich so an?, wollte er sagen, böse beinahe. Es gibt nichts Besonderes zu sehen. Es gibt nur Jari Cizek, Cizek wie der Zeisig, die Haare braunscheckig wie das Gefieder des Zeisigs – wenn auch zum Glück ohne die gelben Stellen –, die Augen von einem Grün wie das Moos auf den Ästen, über die der Zeisig hüpft, ein ganz und gar gewöhnlicher Vogel, ein gewöhnlicher Junge.
    »Du musst mir nicht helfen«, sagte das Mädchen. »Die Kiepe ist leer. Du hast deinen Rucksack zu tragen. Lass sie reden, die alte Kupplerin.« Damit wandte sie sich ab und ging die Straße hinauf, ihr Schritt unregelmäßig und wiegend, das eine Bein zog sie ein wenig nach.
    »Aber …« Jari folgte ihr, doch er kam rasch ins Schwitzen, die verdammte Straße wurde hier oben steiler und steiler. Bei den letzten Häusern des Dorfes, wo die Straße zu einem ungeteerten Wanderweg wurde, blieb er stehen.
    »Warte!«, rief er. »Wir haben den gleichen Weg, oder nicht?«
    Warum rief er ihr nach? Warum ließ er sie nicht gehen, trödelte, wartete, bis er allein war mit dem hohen Himmel und den Bergen? War das nicht sein Plan gewesen? Was wollte er mit diesem verkrüppelten Mädchen? Da war etwas in ihrem Blick gewesen, das ihn festgehalten hatte. Etwas in ihrer Stimme, dieser hellen Stimme, die so wenig zu dem grauen Kopftuch passte. Etwas, das ihn auf unerklärliche Art faszinierte.
    Sie wartete wirklich, bis er neben ihr war. Sie sagte nichts. Sie gingen gemeinsam weiter, schweigend, zwischen Obstwiesen, dann führte der Weg im angenehm kühlen Schatten am Waldrand entlang. Unten im Tal hatte der Herbst einen rötlichen Schleier über das Land gelegt. Die Städte und Straßen waren weit fort, waren winzig und unwichtig geworden. Aus der Höhe rief mit aller Macht der Wald.
    »Du bringst also Bilder zu dieser Galerie?«, fragte Jari schließlich.
    »Das Wetter ist schön«, sagte das Mädchen.
    Er stutzte. Und begriff. »Nein«, sagte er. »Nein, ich frage nicht aus Höflichkeit. Ich frage, weil ich es wissen will.« Wollte er das? »War eines der Bilder das im Fenster?«
    »Ja.«
    »Und ein anderes das ganz kleine, das drinnen zwischen zwei größeren hängt?«
    »Ja.«
    Er atmete tief durch. Er hatte also recht gehabt.
    »Wer malt sie? Jemand in dem Ort hinter dem Wald, aus dem du kommst? Kann man sie dort nicht verkaufen?«
    »Weniger Touristen«, erwiderte das Mädchen und zuckte die Schultern. »Wo ich herkomme, gibt es keinen Bahnhof. Keine Hotels. Keine ausgeschilderten Wanderwege.«
    Jari nickte.
    »Ich«, sagte sie.
    Er starrte sie an. »Wie bitte?«
    »Du wolltest wissen, wer die Bilder malt. Ich male sie. Ich lebe davon.«
    »Nein.«
    »Nein?« Sie sah ihn an, ein spöttisches Lachen in ihren winzigen Augen, so weit fort, hinter Gläsern.
    »Ich meine: wirklich?«, fragte Jari. »Kann man vom Bilderverkaufen leben?«
    »Die Touristen sind gute Käufer.«
    »Aber – die Bilder …« Es war schwer, mit ihr Schritt zu halten, trotz ihres humpelnden, wiegenden Gangs. Sie musste diesen Weg tausendmal gegangen sein, sie war die Höhe und die Steigung gewohnt. »Was ist darauf?«, fragte er.
    Sie schwieg eine Weile. »Der Wald«, antwortete sie schließlich. Aber es war keine Antwort.
    »Da ist noch etwas«, beharrte Jari. »Etwas hinter den Bäumen. Hinter den Tieren. Es ist …«
    »Einbildung«, antwortete sie und lachte, da war wieder der silberne Ton des Glöckchens – oder war es der Gesang eines Vogels, der in ihrem Lachen mitschwang? Ein kleiner Vogel, dachte Jari, unauffällig grau, aber mit einer wunderschönen Stimme. Der Vogel auf dem Bild.
    »Eine Nachtigall«, sagte er laut.
    Sie zuckte kaum merklich zusammen. Es war, als hätte das Wort etwas in ihr ausgelöst, das sie nicht an die Oberfläche ließ, als zitterte diese Oberfläche wie die Blätter auf dem Bild.
    »Der große Bär«, sagte sie. »Wir sind da. Das ist die Sturmhöhe.«
    Der Felsen ragte direkt vor dem Waldrand auf. Er war vielleicht zehn Meter hoch,
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