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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt
Autoren: Antonia Michaelis
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Mathilde, als Jascha bei ihnen ankam. »Ich habe ihn ganz allein gefunden.«
    Sie zog Jascha mit sich, sie mussten durchs Wasser waten, um auf die Wurzeln des Baumes zu klettern. Jari kletterte ihnen nach; Jascha reichte ihm die Hand und zog ihn hoch. Mathilde tanzte voraus, die gelben Jackenarme ausgebreitet. Jascha folgte ihr, und sie wusste, dass Jari hinter ihr kam. So balancierten sie gemeinsam auf den Frühlingshorizont zu, und im Meer wuchs kein Wald.
    »Bis hierher«, sagte Mathilde schließlich. »Bis hierher, das reicht. Jetzt will ich zurück und möchte eine Sandburg bauen.«
    Sie balancierte an Jascha vorbei, waghalsig, sicher, wie nur fünfjährige Kinder sind.
    »Ja«, antwortete Jaris Stimme, irgendwo hinter Jascha. »Bauen wir eine Sandburg.«
    »Ich komme gleich«, sagte Jascha. »Fangt schon an. Ich möchte einmal bis zum Ende des Baumes gehen.«
    Ihre Füße setzten sich voreinander wie eigenständige Wesen, es war seltsam – es war, als kannten ihre Füße den Weg über diesen toten Baum. Dabei war Jascha noch nie hier gewesen, bestimmt nicht, sie waren auf ihren Spaziergängen stets in die andere Richtung gegangen. Sie sah den Baum zum ersten Mal. Und sie hörte den Baum. Da war ein seltsamer Klang, es musste der Wind in der blattlosen Krone sein.
    Ihre Füße, die merkwürdig selbstständigen, führten Jascha zum Wirrwarr der bleichen, toten Äste, einem Labyrinth, und sie dachte an das Labyrinth des Waldes. Es war, als zöge dieses Labyrinth in der Baumkrone sie an, dieses Verknotete, Unwegsame, sich in sich selbst Verlierende, das da mitten in der glatten, geraden, horizontalen Klarheit des Meeres lag. Und da glänzte etwas, zwischen den Zweigen. Jascha kniete sich hin, um durch das Labyrinth nach unten zu sehen, ins seichte Wasser. Lag das, was sie gesehen hatte, auf seinem Grund?
    Sie fand das Glänzen jetzt nicht mehr. Vielleicht hatte sie es sich eingebildet.
    Und dann sah sie etwas anderes: Sie sah die Federn.
    Sie waren in Ritzen und Spalten gesteckt, die das alte Holz durchzogen, mit den schlanken Kielen dort festgeklemmt, kleine, unscheinbar graue Federn. Der Wind zerrte an ihrem Flaum, so wie er an Jaschas schwarzem Haar zerrte, doch es gelang ihm nicht, auch nur eine einzige Feder mitzunehmen. Jemand hatte Sorge getragen, dass sie sich nicht lösen konnten.
    Die Federn durchzogen die ganze Krone. Von ferne sah man sie nicht, denn sie waren winzig und weit verteilt. Ein Flügelbaum, dachte Jascha. Vielleicht wollte er heimfliegen, dorthin, woher er einst gekommen war. Aber er war gestrandet, er konnte sich nicht rühren, seine Tage zwischen anderen Bäumen in einem Wald waren lange vorbei.
    Die Federn sahen aus wie ein Kunstwerk. Oder so, als gehörten sie zu einem seltsamen Ritual. Manche schienen schon alt zu sein, waren halb zerfasert und aufgelöst.
    Am Strand, sehr weit fort, saßen Jari und Mathilde im Sand. Sie sahen nicht zu ihr hinüber, sie hatten sie vergessen. Sie bauten eine Burg.
    »Aber ich … ich war noch nie hier«, flüsterte Jascha.
    Sie beugte sich ein Stück weit vor und fand das Glänzen wieder. Das Glänzen klemmte zwischen drei Ästen, in einer Gabelung. Es war ein schwarzes Glänzen, die Sonne fiel darauf und blinkte silbern auf runden Strukturen im Schwarz. Jascha beugte sich noch weiter vor, streckte die Hand aus und schloss sie um den Gegenstand. Zog ihn aus seinem Versteck hervor. Eine Oboe.
    Der Wind spielte noch immer leise, kaum wahrnehmbare Klänge über den Wellen. Der Wind … Blies der Wind die Oboe? Nein. Sie beugte sich ein letztes Mal vor, hielt sich mit einer Hand an einem kahlen Zweig fest, rutschte beinahe ab. Da glänzte es noch einmal, aber es glänzte nicht schwarz, da glänzte etwas wie Fäden … Saiten. Jemand hatte Saiten zwischen den Ästen gespannt, direkt über der Wasseroberfläche. Saiten wie die einer Harfe.
    Jascha legte sich bäuchlings auf den Stamm und streckte den Arm aus, um sie zu erreichen. Ihre Hände wussten genau, wie sie sich anfühlten, diese Saiten zwischen den Ästen. Ihre Finger glitten über die sonnengleißenden Klänge wie von selbst. Sie richtete sich auf und saß einen Moment lang vollkommen still. Still, still.
    In ihrer Tasche fand Jascha eine Feder, eine kleine, graue, neue Feder. Sie holte sie hervor und suchte den richtigen Platz für sie zwischen den übrigen. Dann legte sie die Oboe wieder in ihr Versteck und balancierte über den toten Baum zurück.
    Mathilde baute einen Graben um die drei
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