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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt
Autoren: Antonia Michaelis
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Abendspaziergang zurückkehrt. Nicht wie zwei Menschen, die am Morgen zuvor noch in einer anderen Welt aufgewacht sind; einer in einem Kellerverlies, die andere eingesperrt zwischen blicklosen Schneiderpuppen. Nicht wie zwei Menschen, die beinahe ertrunken sind und eine Klamm durchquert haben, in der der steinerne Todesvogel wartete.
    »Vielleicht ist überhaupt nichts von alledem passiert«, murmelte Jari. »Vielleicht, weißt du, kommen wir jetzt ins Dorf, und es ist keine Woche vergangen, nur ein einziger Tag, ich habe dich in den Wald und wieder hinaus begleitet, und alles andere war ein Traum.«
    Im Dorf lag der Schnee hoch vor den geduckten Häusern. Die Straßen waren leer; es war noch kälter geworden. Diesmal rettete die Kälte sie. Vor den Blicken. Den Fragen. Hinter Spitzengardinen flimmerten blaustichige Bildschirme. Die schäbig gewordene Weihnachtsdekoration zeugte von einem vergangenen Fest. Raketenhülsen lagen im Rinnstein. An der winzigen Dorfapotheke gab es eine digitale Datumsanzeige. Jari blieb stehen und las sie mit einem Kopfschütteln.
    »Jascha«, sagte er. »Ist das nicht symbolisch? Dies ist der erste Tag. Der erste Abend des ersten Tages im neuen Jahr. Matti und ich … wir haben Silvester sonst immer zusammen gefeiert.«
    Er verstummte, und sie drückte seine Hand.
    Als er weitergehen wollte, zögerte sie.
    »Jari?«
    »Ja?«
    »Was werden wir jetzt tun?«
    »Einen Schlafplatz suchen. An die Tür der Galerie klopfen vielleicht.«
    »Ich habe Geld mitgenommen, alles, was wir noch besaßen. Wir brauchen die Galeristin nicht zu wecken. Ich glaube, ich will sie nicht sehen. Sie war immer freundlich, es ist nur, all diese Bilder … und sie würde mich nicht erkennen. Aber das meine ich nicht. Ich meine: Was werden wir tun? Nicht heute Abend, nicht morgen früh, ich meine …«
    »Mit dem Rest unseres Lebens?«
    Sie nickte.
    »Ich weiß es nicht«, gestand Jari. »Heiraten vielleicht. Matti fand, wir sollten heiraten. Ich finde, es ist eine altmodische Angelegenheit, und wir sind auch viel zu jung. Wir müssen es ja nicht gleich übermorgen tun. Wir werden weggehen, weit weg. Ich hätte dir gern die Spitzendeckchen meiner Mutter gezeigt … Wirklich, auf irgendeine Weise hätte ich das gerne getan. Aber ich denke, ich werde sie nicht wiedersehen. Meine Eltern. Wir werden nie genau wissen, was die Polizei alles entdeckt, wenn sie anfängt, nach Tronke zu suchen. Oder nach den Landvermessern. Ich werde eine Wohnung finden und einen Job. In einer Tischlerei, die nicht meinem Vater gehört. Und du … du wirst malen … und Cello spielen … Wir treiben irgendwo wieder ein Cello auf …«
    »Oh«, sagte sie, »bitte nicht.«
    »Bitte nicht – alles?«
    »Bitte nicht das Cello. Alles andere ja. Du meinst also … du meinst damit … du bleibst bei mir? Und ich bei dir? Ich kenne mich nicht aus in dieser Welt, verstehst du … Ich habe nicht einmal einen Pass.«
    »All das lässt sich einrichten. Es ist unendlich kompliziert, aber es ist möglich. Und ich liebe dich auch ohne Pass.«
    Sie küsste ihn in der dunklen Straße, vor dem Fenster mit dem blauen Fernseher. Diesmal küsste sie ihn richtig, so richtig wie selten zuvor.
    »Und alles, was im Wald geschehen ist …«, wisperte sie, kaum hörbar.
    »Vergiss es«, antwortete er. »Ich weiß, es ist schwer, zu vergessen, viel schwerer, als die Leute behaupten.«
    »Wir werden es niemandem erzählen? Du nicht und ich nicht?«
    »Du nicht und ich nicht.« Jari schluckte. Er war ein Mörder. Noch immer. Man hörte nicht auf, ein Mörder zu sein, weil man nicht mehr mordete. Konnte er denn vergessen? War es möglich?
    »Es geht niemanden etwas an«, sagte er. »Wir erzählen eine andere Geschichte, irgendeine einfache und verständliche. Wenn es wahr ist, dass Joana und Jolanda tot sind …«
    »Sie sind tot.«
    »… dann braucht niemand mehr etwas zu fürchten im Wald. Außer vielleicht den Wölfen.«
    »Ja«, sagte sie. »Komm.«
    »Warte. Hältst du denn das alles hier aus, Jascha? Die … Hässlichkeit? Sieh dich um. Der Fernseher. Die Gardinen. Die Schatten. Die Menschen, die morgen die Straßen füllen werden, die Züge, die Busse …«
    »Ich habe noch nie etwas so Schönes gesehen«, antwortete Jascha, »wie die Hässlichkeit der Menschen.«

Federgrau
    Der Bahnhof war so leer wie die Straßen des Dorfes. Es fuhr noch ein letzter Zug. Während sie warteten, kaufte Jari von Jaschas Geld am Bahnhofskiosk zwei belegte Brötchen,
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