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Solange die Nachtigall singt

Solange die Nachtigall singt

Titel: Solange die Nachtigall singt
Autoren: Antonia Michaelis
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Natur, Postkartenansichten von Sandsteinformationen mit klingenden Namen und – nein. Da war noch eines, das ihn erstarren ließ. Es war kaum größer als ein Schulheft. Jari brauchte nicht näher heranzutreten, um zu erkennen, dass der Wald auch auf diesem Bild ein unbehagliches Schweigen schwieg.
    »Kann ich Ihnen helfen?«, fragte jemand.
    Er zuckte zusammen. Natürlich. Natürlich war er nicht allein hier. Galerien beinhalteten in der Regel Galeristen. Nicht dass er sich mit diesen Dingen auskannte …
    Hinter einem schmalen alten Holztisch saß eine ausladende ältere Dame in einem violetten Strickkleid und lächelte ihn unter einer Flut von grauen Löckchen hervor an. Vor ihr stand ein unpassend modernes Kartenlesegerät.
    »Nei  … nein, danke«, stotterte Jari, seltsam ertappt, »ich … ich suche nichts. Ich sehe mich nur um.« Sagte man das in einer Galerie? War es nicht eher eine Bemerkung für einen Baumarkt? Es war, in jedem Fall, eine Lüge. Natürlich suchte er etwas. Ich suche das, dachte Jari, was auf dem Bild nicht zu sehen ist. Idiot.
    Die Dame im Wollkleid nickte und lächelte noch ein wenig breiter, nachsichtig. Sie saß nicht allein an ihrem Tisch, da war eine junge Frau bei ihr, ein Mädchen beinahe. Ein hässliches Mädchen unglücklicherweise. Offenbar hatten die beiden zusammen Kaffee getrunken. Auf dem Tisch, neben dem Kartenlesegerät, standen zwei leere Tassen und ein Teller mit einem übrig gebliebenen Keks, die Sorte Keks, die man im Supermarkt kauft, weil man keine Zeit hat, zu backen. Jaris Mutter verabscheute Supermarktkekse. Genau wie Doseneintopf und Tütensuppen und eingefrorene Pizza. Nichts, was nicht aus ihrer eigenen Küche kam, würde je seinen Weg auf den Tisch finden, den sie jeden Abend mit großer Sorgfalt deckte und auf dem sie noch immer die gleichen gestärkten weißen Tischtücher ausbreitete, die Teil ihrer Aussteuer gewesen waren. Ein wenig war es stets, als käme seine Mutter aus einer anderen Zeit, der »Zeit, als wir nichts hatten«, als wäre sie eine Großmutter, eine Urgroßmutter, eine Märchengestalt. Sie hatte ihre Kindheit weit jenseits der tschechischen Grenze verbracht, aber das war kein Grund, fand Jari, eine Welt aus gestärkten Tischtüchern aufzubauen.
    Drei Wochen Freiheit waren auch drei Wochen ohne Tischtücher, drei Wochen, in denen er theoretisch von Supermarktkeksen leben konnte. Wenn er auf seiner Wanderung in den Bergen einen Supermarkt fand. Es war längst Zeit, zu Hause auszuziehen, er wusste es, und vielleicht war sein Entschluss, zu wandern, auch eine Flucht. Ein Bruch. Wenn er zurückkam, würde er endlich ein eigenes Leben beginnen. Ein Leben zwischen Brettern und Hobelspänen, sicher, aber immerhin ein Leben im Hier und Jetzt.
    »Er ist in Gedanken«, sagte das Mädchen. »Er hat die Frage nicht gehört. Ein Träumer.«
    Sie hatte leise gesprochen, kaum hörbar, aber Jari fuhr hoch. »Wie?«
    Er hörte die beiden Frauen lachen, ein Duett aus dem tiefen, alten Lachen der älteren und dem hellen Lachen der jüngeren Frau. Sie lachte wie das Silberglöckchen an der Tür. Das war allerdings alles, was sie mit dem Wort Silberglöckchen verband. Sie trug eine starke Brille mit großen, eckigen Gläsern, hinter denen ihre Augen winzig wirkten, und sie blinzelte, wenn sie sprach, als könnte sie ihre eigenen Worte nicht gut genug sehen.
    »Ich habe Sie gefragt«, wiederholte die Frau mit den grauen Löckchen, »ob Sie wandern wollen. Wie die anderen. Der Herbst ist schön hier oben. Aber wir kriegen einen frühen Winter dieses Jahr. Es kommen nicht mehr viele zum Wandern.«
    »Ja … ich … ich bin gekommen, um zu wandern«, antwortete Jari. Er betrachtete noch immer das Mädchen. Sie war aufgestanden und bückte sich über einen großen Rucksack, den sie umständlich schloss. Etwas mit ihrem Rücken stimmte nicht. Unter dem verblichenen Kleid und der alten Strickjacke zeichnete sich deutlich ein Buckel ab. Die Wirbelsäule des Mädchens war verkrümmt, die Rippen wölbten sich auf der einen Seite hervor.
    Jari sah jetzt auch ihre Schuhe, klobige schwarze Schuhe mit offensichtlich unterschiedlich hohen Sohlen, wohl um die Asymmetrie des geschundenen Körpers auszugleichen. Die dünnen Arme, die aus der Strickjacke ragten, der dünne Hals und das schmale Gesicht passten nicht zum plumpen Rest der Gestalt; nichts, gar nichts passte zusammen. Um den Kopf hatte sie ein schwarz-grau gemustertes Tuch geschlungen, das selbst Jaris Mutter zu
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