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Sokops Rache

Sokops Rache

Titel: Sokops Rache
Autoren: Birgit Lohmeyer
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Wellers direkte Art. Seine Ansagen sind klar, aber respektvoll, seine Scherze intelligent. Er strahlt eine natürliche Autorität aus.  Bei ihm muss ich besonders vorsichtig sein. Ich werde versuchen, ihn in Sicherheit zu wiegen, höflich und zuverlässig auftreten, seine Unterstützung so weit annehmen, wie es für meinen Plan gut ist.
    Sie haben die A 20 am Wismarer Kreuz verlassen. Weller deutet auf ein wie zufällig in die Landschaft gekipptes Gebäude, ein Hotel, das kurioserweise einem Schiff nachempfunden ist.
    »Gab es das damals schon? Sieht ein wenig nach DDR aus, meinst du nicht?« Henry lauscht Wellers Stimme, die keinerlei Färbung oder Dialekt aufweist, jedoch auf irgendeine Art den Eindruck erweckt, er könne von einer Sekunde auf die andere in breitestes Rheinländisch verfallen.
    »Falsch, das wurde damals nach der Wende gebaut. Obwohl du Recht hast, im jetzigen Zustand wirkt es so, als wäre es deutlich älter. Die müssten mal renovieren.«
    Um halb neun halten sie auf dem Kopfsteinpflaster des Spiegelbergs, einer Altstadtstraße in der Nähe des Hafens, vor einem schmalen zweigeschossigen Altbau. Henrys Erinnerungen an diesen Teil Wismars sind spärlich. Sicher, durch das spätgotische Wassertor am unteren Ende des Spiegelbergs ist er damals häufig gelaufen, hat jedes Mal daran gedacht, dass Murnaus Vampir  Nosferatu , den Sarg auf der Schulter, in dem alten Schwarzweißfilm auf eben diesem Weg in die Stadt gekommen war. Aber ansonsten hatte es hier nichts gegeben, was ihn gereizt hätte. Für das hier ansässige horizontale Gewerbe hat er sich nie interessiert. Alles, was er in dieser Hinsicht brauchte, bekam er damals gratis.
    »Da wären wir.« Weller klingt munter. Henrys Magen ballt sich zu einem harten Knoten. Die Wucht, mit der sein neues Leben über ihm zusammenschlägt, lässt ihn erstarren. Er meint plötzlich, sich nicht einen Zentimeter weit rühren zu können.
    »Soll ich kurz mit reinkommen?« Weller mustert ihn, spürt die Ohnmacht des anderen und stellt den Motor ab.
    Henrys Dankbarkeit für dieses Angebot übertönt den Vorsatz, sich dem Bewährungshelfer gegenüber bedeckt zu halten. Er nickt. Drei Schlüssel sind an dem Ring, der ihm vorhin an der Anstaltspforte in einem braunen Umschlag ausgehändigt worden ist. Die ersten beiden passen nicht. Wie lange schon hat er kein Schloss mehr selbst aufgeschlossen! Er schämt sich für seine zitternden Hände, doch Weller blickt die Straße hinunter, streicht beiläufig seinen langen braunen Pferdeschwanz glatt.
    »Da bist du ja mitten zwischen Rotlicht und Deutsch-Kurzhaar gelandet. Die Nazis haben dort hinten, neben dem Nachtclub, einen Laden, von dem immer wieder Randale ausgeht. Und hier, gleich nebenan in der Fischerstraße, hausen auch ein paar von denen. Pass bloß auf, dass du dich in nichts verwickeln lässt.«
    Endlich gelingt es Henry, die schwere, über das Linoleum schrappende Tür aufzustoßen. Der Raum dahinter ist angefüllt mit dem kräftigen, fremden Geruch der Menschen, die hier wohnen:  Scholz, Rump, Meier.  Vier Briefkästen, darunter auf dem Boden ein buntes Durcheinander von Werbesendungen und Zeitungen. Er folgt der Beschreibung des Gefängnissozialarbeiters und schließt die erste Tür auf der linken Seite auf. In der Luft, die ihm entgegenschlägt, hängt ein abgestandener Geruch, undefinierbar, doch deutlich anders als das Anstaltsaroma. Seine zweite eigene Wohnung! Für einen kurzen Moment erfasst ihn kindische Aufregung. Ganz so wie damals, als er mit achtzehn nach Berlin zog, bei Werner, einem Bekannten seines Vaters, wohnte und sich fürchterlich erwachsen vorkam. Henry lächelt verstohlen, als er an den dicken, Zigarillos paffenden Werner mit seinen speckigen Unterhemden denkt. Vater sprach von seinen Kumpanen und sich stets als Ganoven. Mit einem unverhohlenen Stolz, der Henry – bei allem Respekt – albern vorkam. Bis er vor ein paar Jahren in einem Buch aus der Anstaltsbibliothek die jiddische Wurzel des Wortes entdeckte. Da wurde ihm schmerzlich bewusst, dass er als Sohn eines KZ-Überlebenden keinen Schimmer von dessen Leben, seinen Vorfahren, deren Glauben und Traditionen hatte. Die  Ganovenwelt  des Alten, die schäbigen Quadratmeter des verqualmten Bürocontainers auf dem Gebrauchtwagenplatz, war damals schnell zu einem neuen Zuhause für Henry geworden. Wahre Nähe stellte sich zwischen ihnen jedoch nicht ein, auch wenn sein Vater ihn nach und nach zumindest in die geschäftlichen Karten
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