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Sokops Rache

Sokops Rache

Titel: Sokops Rache
Autoren: Birgit Lohmeyer
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er stehen, saugt die leicht salzige, erstaunlich milde Märzluft tief in seine Lunge. Ihm wird klar, dass er noch längere Zeit mit dem Versuch beschäftigt sein wird, sich an ein Leben ohne äußere Struktur zu gewöhnen, an Tage und Nächte ohne die Gewaltherrschaft der Anstalt. Die Anstalt, die all die Jahre wie ein Kissen auf seinem Gesicht war. Entlassung heißt nicht zwangsläufig, dass man frei wird.
    Henry lässt den Blick wandern, beginnt mit der Erkundung seiner Straße. Von hier aus kann er die Turmspitze von St. Nikolai sehen, die über die Dächer der gegenüberliegenden Häuser lugt. Er nimmt sich vor, die Kirche bald einmal zu besichtigen. Ebenso wie die anderen Kirchen der Stadt. In ihre Restaurierung sind in den letzten Jahren gigantische Summen investiert worden, weiß er aus dem Fernsehen. Er probiert es damit, sich wie ein Tourist zu fühlen, lenkt seine Schritte den Spiegelberg hinauf und wieder hinunter.
    Die Straße wirkt vertraut und fremd zugleich. Nur noch wenige der historischen Häuser sind im Zustand von vor fünfzehn Jahren. Er sieht kaum noch zugemauerte Fensterlöcher oder eingefallene Dächer; dagegen fast überall moderne Isolierverglasung, sauber getünchten Putz, neue Gauben auf den frisch gedeckten Dächern. Und bunt ist es geworden. Die Häuser strahlen gelb, türkis, lachsfarben, mit kontrastierend lackierten Fensterrahmen und Türen. Vor einer Fassade staunt er über den Mut der Bewohner, die das Motto  Mehr Bildung für Nazis  in eines der Erdgeschossfenster gehängt haben. Und das keine fünf Eingänge vom Laden der Angesprochenen entfernt. Henry geht weiter, schaut in Fenster, die Durchblicke auf idyllische Innenhöfe erlauben, liest Schilder an den Eingängen, findet heraus, dass der Laden auf der anderen Straßenseite ein  Headshop  ist, der neben Wismarsouvenirs Zubehör für den Konsum nicht ganz legaler Rauschmittel anbietet. Etwas, das ihn noch nie interessiert hat. Seine Drogen sind schon immer Tabak und gelegentlich Alkohol gewesen. Nicht nur einfach in der Beschaffung – wenn man nicht gerade hinter Gefängnismauern sitzt – sondern auch einfach und vergleichsweise sicher in der Dosierung. Nichts fürchtet er mehr, als die Kontrolle über sich selbst zu verlieren.
    Zwei schwarz gekleidete junge Männer kommen ihm auf dem Gehweg entgegen, augenscheinlich die Bewohner dieses Naziladens mit der dunkel verrammelten Schaufensterscheibe. Ihm sind solche Typen von Waldeck her nicht unbekannt, diese stupide, brutale Einschüchterungspose, die jene Kerlchen vor sich hertragen wie einen schlechten Geruch, diese Bereitschaft, zumindest wenn sie nicht allein sind – und das sind sie so gut wie nie – sofort zuzuschlagen. Auch die beiden hier sind solche menschlichen Kampfhunde, verströmen neben deutlich wahrnehmbarem Bierdunst eine Mischung aus Provokation und die eigene Angst übertönender Aggression. Als sie dicht vor ihm sind, werden Henrys Augen schmal, ganz so als schaue er in grelles Licht. Dann wendet er den Blick ab und schlendert an den Schwarzen vorbei, die Straße entlang – nach außen hin ganz der Tourist, als der er sich fühlen möchte. Nur sein Herz schlägt noch eine Weile lang schneller, als es sein gemächliches Tempo erwarten ließe. Er wechselt die Straßenseite, schaut an Fassaden empor, verfolgt den Flug zweier Möwen, die am blassblauen Himmel in Richtung Hafen segeln. Hier, am Ende der Straße, haben die Restauratoren für seinen Geschmack ein wenig zu viel des Guten getan. Es ist anscheinend einer der jüngsten Bauten in der Straße – 1905 prangt in goldenen Lettern unter dem Giebel. Um die vielen Fenster der roten Backsteinfassade ranken sich gemalte rot-weiß-blaue Girlanden, erzeugen zusammen mit großen rot-weißen Ornamenten – sieht man länger hin – Schwindel wie ein psychedelisches Muster. Er wendet den Blick ab und schmunzelt über die historische, kaum verblasste Werbung für Kautabak an einer Fassade am unteren Ende der Straße. Vielleicht könnte diese Stadt wieder zu so etwas wie einem Zuhause für ihn werden, versucht er sich einzureden.
    * * *
    »Ich war siebenundzwanzig, als mein zweites Leben begann. Das Leben eines wegen Mordes verurteilten Gefängnisinsassen. Verurteilt zu einem Leben unter Männern. Kerlen, die entweder schon vorher abgedreht, degeneriert und verroht waren oder es im Knast geworden sind. Männer, die eines auf keinen Fall sein wollen: schwach. Ein Leben ohne Intimsphäre, mit dem gnadenlosen Druck
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