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Sokops Rache

Sokops Rache

Titel: Sokops Rache
Autoren: Birgit Lohmeyer
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knapp über dem Horizont am diesigen Himmel. Er marschiert bis zum Ende, zieht dort die  Sig Sauer  aus seiner Tasche und wirft sie in weitem Bogen hinaus in die Ostsee. Dieses nutzlose Gerät, das ihm am Ende nicht einmal geholfen hat, das verrückte Mördergroupie zu stoppen, da er es im Wagen vergessen hatte. Es wird ihm auch in Zukunft bei nichts helfen.
    Der Morgen ist kühl, Möwen und Enten schwimmen auf den Wellen, vom Hafen her nähert sich wie in Zeitlupe ein rot-weißes Frachtschiff. Zwei Meter unter ihm das Meer: unruhig, braungrün. Darin Quallen, unzählig viele, deren Anblick ihn in eine bewundernd-nachdenkliche, beinahe philosophische Stimmung versetzt. Ihre rhythmischen Bewegungen, von denen er nicht einmal sagen kann, ob sie der Fortbewegung dienen oder eine andere Funktion haben, lassen Hunderte sternförmige, filigrane Ornamente dicht unter der Wasseroberfläche entstehen, welche ihn eigenartig berühren.  Diese absichtslose Schönheit! Denn selbst werden diese Tiere nicht sehen können, ja nicht einmal wissen, welch wunderbaren Sternenhimmel sie mit ihren Bewegungen über dem Meeresgrund erschaffen. Sind es überhaupt Tiere? Ohne Weiteres wäre denkbar, dass es außerirdische Wesen sind. Beziehungsweise liegt es nahe – mit der menschlich-begrenzten Phantasie – Außerirdische genau so, als Quallen, darzustellen. Ein frommer Wunsch, dass irgendeine göttliche Instanz, von ihrer Warte aus, das menschliche Wesen und Wirken als ebenso faszinierend empfinden mag.  Quallen. Es gibt wenige Lebewesen, von denen er so wenig weiß.  Wovon ernähren sie sich? Schlafen sie jemals? Wie verständigen sie sich untereinander?  Das Unterwasseruniversum erscheint ihm mindestens so komplex und fremd wie seine eigene Welt, die er seit seiner Entlassung aus Waldeck mit dem ungerührten Blick eines extraterrestrischen Beobachters betrachtet.
    »Schön, nicht?«
    Weller ist neben ihn getreten. Eine halbe Stunde vor der Zeit.  Hat auch er etwas, das er hier in den Fluten loswerden will?  Henry blickt kurz auf, nickt, sieht dann weiter dem Quallenballett zu und dreht nebenbei eine Zigarette. Der Wind lässt seine Regenjacke rascheln.
    Aufgrund von Wellers Intervention – sein Wort gilt etwas bei der Staatsanwaltschaft – und Nicoles Aussage, dass er sie und ihren Vater vor der Attacke der psychisch gestörten Journalistin gerettet hat, haben sie ihn nicht in Haft behalten. Der Rotbart hat seine Anzeige zurückgezogen. Das Kapern des Bootes, den unsanften Umgang mit dessen Eigner hat man als zwar unnötig rabiate, aber seiner Panik geschuldete Notfallmaßnahme gewertet. Er ist also nach wie vor ein freier Mann.
    »Der Schriftsteller Helmut Krausser hat in Bezug auf Quallen gesagt:  Tiere, die man nicht essen kann, vor denen man sogar Angst haben muss, stellen die Zivilisation in Frage. « Weller kichert albern. »Was meinst du, Henry?«
    »Ich meine, dass dieser Krausser ein eitler Schwätzer ist und die Bemerkung eine hohle Phrase.« Er schnippt den Rest der Zigarette über die Brüstung. »Lass es uns kurz machen. Was hast du erreicht?«
    Sein Bewährungshelfer streicht sich über den Seehundsbart, als wolle er Zeit gewinnen. Sein Pferdeschwanz weht ihm vor das Gesicht; er macht eine leichte Drehung, steht nun frontal vor Henry.
    »Also gut. Wir haben die Zustimmung der Staatsanwaltschaft. Du kannst umsiedeln. Ich habe deine Akte an die Hamburger Bewährungshilfe weitergeleitet. Dort hast du am Freitag einen Termin bei einem Kollegen namens Marx. Ich kenne ihn nicht, aber vermutlich wird er nicht mit dir segeln.« Er sieht ihm das erste Mal direkt in die Augen. »Und du hast dir das wirklich lange genug überlegt? Ich vermute, nein, ich bin mir sicher, nicht nur ich werde dich vermissen.«
    »Lass gut sein, Weller. Mein Entschluss steht. Hier gibt es keine Zukunft für mich.« Sein Empfinden, das er seit mehr als fünfzehn Jahren dicht verpackt hat wie in einem Taucheranzug, ist aufgebrochen, spült Gefühle an die Oberfläche, die er nur schwer erträgt. »Sie wird mir das niemals verzeihen, da kann ich ihr und ihrem Vater noch dreißig Mal das Leben retten.«
    »Vielleicht kennst du sie doch nicht so gut, wie du meinst.«
    Aber ihr Vater wird mich kennen, wenn er erfährt, wer ich wirklich bin , antwortet Henry in Gedanken. Wie oft hat er sich in den letzten achtundvierzig Stunden die Szene vorgestellt, wenn Oldenburg – milde gestimmt durch seine wiederholte Rettung durch Henry – Nicole von dem Tod
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