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Sokops Rache

Sokops Rache

Titel: Sokops Rache
Autoren: Birgit Lohmeyer
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für diese Täter?
    Während der ersten Gespräche mit Anstaltsleitern, Psychologen und anderen Justizangestellten ist ihr erst bewusst geworden, auf welchem Terrain sie zu agieren beabsichtigte. Doch auch die Auskünfte des im Strafvollzug arbeitenden Psychologen, den sie interviewte, haben sie nicht von ihrem Vorhaben abgebracht. »Die meisten Gefängnisinsassen – jedenfalls unter den Langstrafern – sind psychisch gestört«, hatte er gewarnt. »Das ist zumeist die Folge und weniger die Ursache des Aufenthalts in der Strafanstalt. Geistig gesund ist nach jahrzehntelanger Haft kaum jemand mehr.«
    Unvergessen ist ihr das Interview geblieben, das sie mit dem als  Säuremörder  berüchtigten Verbrecher im Hamburger Gefängnis  Santa Fu  geführt hat. Hinter seiner höflichen Auskunftsfreude hatte sie dieser harmlos wirkende ältere Mann im Trainingsanzug, beim Geplauder mit Kaffee und Kuchen – wie, ist ihr noch immer nicht klar – spüren lassen, dass er ihr jederzeit den Hals umdrehen könnte, wenn ihm danach zumute wäre. Ihr war, obwohl Hochsommer geherrscht hatte, noch mehrere Stunden nach dem Gespräch unnatürlich kalt gewesen.
    Dann traf sie Henry Sokop. Ohne, dass sie sagen könnte wie, war dieser Mann innerhalb weniger Wochen zu ihrem Lebensinhalt geworden, für den sie alles tun würde.
    * * *
    Er wüsste nicht einmal, ob man die Fahrscheine noch beim Busfahrer kauft. Zum Glück steht da wie versprochen der schwarze BMW – nicht das neueste Modell, aber gut in Schuss – und Wellers massige Gestalt sitzt am Steuer. Henry versucht, langsam und entspannt auf den Wagen zuzugehen, aber seine Kniegelenke scheinen aus Gummi zu bestehen. Er hält inne, stellt sein Gepäck ab und zieht den Tabak aus der Jackentasche. Weller wird das kennen, dass man nicht sofort im Draußen ankommt, sondern Zeit braucht. Dieses unwirkliche Gefühl, das einen hier vor dem Tor anspringt, die Wucht des Neuanfangs, die einen niederdrückt. Henrys Augen wandern, ohne eine Bewegung seines Körpers, durch die Umgebung, von dem am Straßenrand wartenden Wagen über die Kronen der Bäume mit ihrem frischen Frühlingsgrün, in dem flinke kleine Grünfinken und Kohlmeisen schwatzend hin- und herfliegen, zur Biegung der asphaltierten Zufahrt, hinter der die Bundesstraße verläuft.
    Schließlich tritt er die Zigarette aus, nimmt seine Sachen und geht los. Weller kommt ihm entgegen, sie schütteln sich stumm die Hände, obwohl sie gleich beim ersten Treffen vor einigen Wochen übereingekommen sind, auf dieses altmodische Ritual zu verzichten. Doch dieser Augenblick, diese Begrüßung strahlen eine diffuse Feierlichkeit aus, die einen Handschlag durchaus rechtfertigt. Seine Sachen sind im Kofferraum verstaut, Weller hat den Motor angelassen – und Henry steht noch immer an der offenen Beifahrertür, umklammert sie mit weißen Fingerknöcheln und dreht nun endlich, traumwandlerisch langsam, den Kopf zurück zu der riesigen grauen Mauer aus Betonfertigteilen. 5 654 Tage ist es her, dass er das war, was man einen freien Mann nennt. Er verbietet sich Überlegungen, ob er dies nun wirklich wieder ist – frei.
    * * *
    Sie öffnet die Augen. Schließt sie sofort wieder, spürt dem letzten Traumfragment nach. Nichts. Nur dieser Druck im Kopf. Wie viele Flaschen Wein waren es gestern? Zwei? Oder doch drei? Eindeutig zu viele. Ihre Zunge klebt am Gaumen. Sie muss aufpassen mit dem Alkohol. Aber heute ist doch ein besonderer, aufregender Tag, den es vorzufeiern galt. Der Schreck schießt ihr in die Glieder.  Wie spät ist es?  Sie muss um sieben dort sein. Sie reißt die Augen auf, blinzelt zum Wecker.
    Viertel vor sechs.  Das ist nicht zu schaffen!  Ruckartig setzt sie sich auf, springt aus dem Bett. Für einen Moment wird ihr schwarz vor Augen. Sie muss es schaffen! Atemlos reißt sie sich die Jeans über die Beine, behält das Top, das sie zum Schlafen trägt, an und hastet in den Flur. Tasche? Steht unausgepackt auf dem Boden vor der Garderobe.  Schuhe?  Sie schlüpft in die erstbesten, ausgelatschte Sneaker.  Autoschlüssel?  Sie hetzt ins Wohnzimmer, findet den Bund neben der Computertastatur in einer Weinpfütze, rast zur Wohnungstür, schnappt dabei ihre Lederjacke vom Haken. Der Spiegel zeigt für den Bruchteil einer Sekunde ein zerzaustes blasses Gespenst mit orangefarbenen Haaren. Die alten Holztreppen schreien gequält auf, als sie – jede zweite überspringend – die beiden Stockwerke hinabpoltert.
    Der quadratische,
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