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Söhne und Planeten

Söhne und Planeten

Titel: Söhne und Planeten
Autoren: Clemens J. Setz
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gut gemeint war, erkannte ich mich in den angedeutetenGesichtszügen. Ich schaute ein wenig fragend, fand ich, vielleicht auch eine Spur ratlos.
    – Aber ich schaue ein wenig traurig, oder?
    Sie sah mir ins Gesicht.
    – Finde ich gar nicht. Heute zumindest nicht.
    Ich hatte Nina vor einem Monat auf einer Lesung kennen gelernt. Jan, ein alter Schulfreund, der wie ich und so viele andere junge Menschen in dieser harmlosen und phantasiehungrigen Stadt Schriftsteller ist, hatte mit ihr zusammen an einem Projekt gearbeitet. Er schrieb die Texte und Nina illustrierte sie.
    Schon nach einem kurzen lockeren Gespräch machte ich ihr Komplimente über ihr Talent. Sie antwortete, dass ich ja noch gar nichts von ihr gesehen hätte. Aber da ich ihr nun einmal so hübsche Komplimente machen würde, müsste ich, um meine Glaubwürdigkeit zu wahren, unbedingt etwas sehen.
    – Wie wäre es am Freitag, vielleicht bei einem Frühstück?
    Ich sagte sofort zu. Weitere Komplimente hielt ich allerdings zurück.
    Nina war bereits Mutter. Sie hatte ihren Sohn mit sechzehn bekommen, hatte danach auf Anraten ihrer Eltern die Schule gewechselt und war nach dem Schulabschluss mehrere Jahre zuhause geblieben. Der Vater ihres Kindes war verschwunden. Ninas Eltern drohten damit, ihn ausfindig zu machen und gerichtlich zur Verantwortung zu ziehen. Aber dann tauchte er plötzlich von selbst wieder auf, gesellte sich reumütig zur Mutter seines inzwischen dreijährigenSohnes und heiratete sie. Zwei gesegnete Jahre lang waren sie eine Familie, bis sie sich schließlich scheiden ließen. Diesmal hatten Ninas Eltern keine Einwände.
    Andreas war heute sieben Jahre alt. Trotz seines Alters las er bereits Bücher über Kirchengeschichte. Er war ein Wunderkind.
    Nachdem sie mir die Umrisse ihrer Biographie skizziert hatte, fragte ich Nina:
    – Und, wofür interessiert sich dein Kind so?
    – Die neuere Katharer-Forschung, antwortete sie.
    Ich war erst vor drei Monaten ausgezogen, hatte meinen Bruder Jürgen und meine Mutter zurückgelassen. Drei Monate in Freiheit vor meinem Vater, der einen paranoiden Schub nach dem anderen hatte und am Telefon damit drohte, meine Mutter umzubringen.
    Dennoch: drei Monate in Freiheit.
    Während Nina mich porträtierte, kam Andreas zur Tür herein, mit einem Buch in der Hand. Man spürte, dass ihm die Situation ein wenig Angst machte, er wäre wahrscheinlich lieber ganz allein gewesen mit seiner Mutter, wie alle Wunderkinder. Ich nahm ihm das Buch ab. »Der heilige Gral und seine Erben«. Es hätte genauso gut ein Mickey-Mouse-Heft sein können, ich konnte damit im Augenblick nichts anfangen.
    – Was bringst du uns denn da?
    Ninas Stimme war betont mütterlich, ein wenig höher und melodiöser. Man merkte sofort, dass sie sonst in einem anderen Ton mit ihrem Wunderkind sprach, erwachsener wahrscheinlich. Andreas sah siegequält an. Er verstand die Situation nicht. Das Buch war vermutlich ein Versuch, das Niveau unserer Unterhaltung zu heben.
    – Der Heilige Gral …, sagte ich.
    Ich zeigte ein wenig Anerkennung und schlug das Buch auf. Andreas sah seine Mutter prüfend an. Würde sie jetzt aufhören, ihn wie ein Kind zu behandeln? Was ging denn eigentlich hier vor? Sein kleiner runder Mund hatte sich schmollend zusammengezogen und die Unterlippe suchte Schutz hinter den Milchzähnen. Werde wieder normal, flehte sein ängstliches Gesicht.
    Unterdessen wuchs mein Porträt unter Ninas Fingern, entwickelte sich wie ein Embryo und verwandelte sich in verschiedenen Stadien der Ähnlichkeit. Einmal glich es mir als jungem Mann, dann wieder dem Kind, das ich gewesen war, dann schließlich, nachdem der Radiergummi ein fehlerhaftes Ohr korrigiert hatte und der weiße Abrieb meine Schläfen bedeckte, einem alten Mann. Als ich sah, wie sich mein Gesicht unter den behutsamen Händen Ninas verwandelte, wurde mir klar, dass ich mit ihr schlafen würde.
    Andreas nahm mir das Buch aus der Hand. Er blätterte darin und fand – ja, die Hauptsache: eine Abbildung der südfranzösischen Ortschaft Rennesle-Château.
    Ich kannte die Legende, dennoch überwand ich mich und sagte:
    – Hab ich noch nie gehört.
    Es klingelte. Nina zeichnete einen Schatten um meine linke Wange zu Ende und stand auf. Man hörte von draußen eine aufgeregte, hohe Männerstimme.Dann Ninas Stimme, die nach Andreas rief. Und wieder den Mann, der ihn offenbar begrüßte.
    Hinter mir ging die Tür auf und der Besucher kam herein. Zuerst sah er mich nicht, weil er
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