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So zärtlich war das Ruhrgebiet

So zärtlich war das Ruhrgebiet

Titel: So zärtlich war das Ruhrgebiet
Autoren: Laabs Kowalski
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ließ, Sätze wie „Kultur ist das, was übrig bleibt,
wenn man alles vergessen hat.“
    Bis auf Friedhelm teilten wir
jedem von uns eine Silbe des Shadok-Alphabets zu und setzten sie unter einen selbstgemalten
Shadok, den wir auf einen Button klebten, den wir wiederum an unsere Jacke
hefteten. Friedhelm dagegen bekam alle vier Silben und Professor Shadoko. Doch
anscheinend waren wir die einzigen, die für diese Serie schwärmten. Alle
anderen schienen sich einig zu sein, dass wir nicht mehr alle Datteln an der
Palme hatten.
     
    Ganz anders war es mit der Satire-Zeitschrift „Mad“, von
der jeder, den wir kannten, Dutzende von Exemplaren besaß. Vor allem die meist
einseitigen Comics des Zeichners Don Martin, der auch der Erfinder des
Superhelden Cäpt’n Hirni war, kamen gut an. Maskottchen von „Mad“ war Alfred E.
Neumann, eine Figur, dessen Gesicht auf jeder Ausgabe prangte.
     
    Im Herbst fuhren Rüdiger und ich mit den Naturfreunden
auf eine Wochenendfreizeit nach Greven bei Münster. Das Naturfreundehaus lag in
einem kleinen Waldstück unmittelbar an einem kleinen Fluss. In drei Gruppen
wurde an Texten und Bildern für eine Moritat über einen fiktiven Jungen
gebastelt, der keinen Ausbildungsplatz bekommt und ins soziale Abseits gerät.
In der Gruppe, der Rüdi und ich zugeteilt waren, gab es drei Freundinnen, die allesamt
aus Gelsenkirchen-Bismarck kamen: Carola, Bärbel und Anne. Wobei ich allerdings
ausschließlich Augen für Carola hatte. Leider wusste ich nicht, wie ich es
anstellen sollte, in den Pausen ein Gespräch mit ihr zu beginnen.
             „Geh einfach hin und sag’ irgendwas“, schlug
Rüdiger vor.
             „Was denn?“
             „Na, dass sie schöne Haare hat zum Beispiel.“
             „Das sag’ ihr besser mal selbst.“
             „Bin ich in sie verliebt oder du?“
             „Wer sagt denn, dass ich verliebt bin …“
             „Niemand. Es sehen bloß alle.“
             Am Samstagabend wurden im Saal erst Spiele
veranstaltet, anschließend das Licht abgedunkelt und Platten aufgelegt. Als
Carola zufällig in meiner Nähe stand, reagierte Harry mit der schief stehenden
Nase sofort. Er brach den Song, der gerade lief, abrupt abund legte
blitzschnell „I’m not in Love“ von 10cc auf. Dann schaute er uns an und sagte:
„Was ist? Worauf wartet ihr noch?“
             Carola und ich legten die Arme umeinander, und
ich tanzte meinen ersten Klammerblues. Er schien endlos zu dauern.
    War er aber leider nicht.
    Der Song klang aus. Carola hob
ihren Kopf von meiner Brust. Was sollte ich nun tun? Sie auffordern, mit mir
weiterzutanzen? Gute Idee, aber ich bekam kein Wort über die Lippen. Irgendwie
war mir mein Sprachzentrum abhanden gekommen, und ich stand wie ein Vollidiot
da.
             „Lust, ihr zwei, mich am Plattenteller
abzulösen?“, fragte Harry.
             Kommunisten waren großartige Menschen, soviel
stand fest. Unsere Köpfe dicht beieinander, gingen Carola und ich die
Schallplatten durch.
             Auf der Rückfahrt ins Ruhrgebiet tauschten wir
im Bus Adressen und Telefonnummern aus: ich mit Carola, Rüdiger mit Kerstin
Schenkenberger, die ebenfalls aus Gelsenkirchen kam. Gelsenkirchen – das lag gefühlt
mindestens fünfhundert Kilometer von Dortmund entfernt.
             Ihre Hand zu ergreifen oder sie sogar zu küssen,
traute ich mich  nicht. Aber wir hatten verabredet, dass Rüdi und ich nach
Gelsenkirchen kommen würden, um die Mädchen zu besuchen.
     
    Zum Jahreswechsel bescherte das Wetter dem Norden
Deutschlands einen Wintereinbruch, dessen Ausmaße zunächst niemand absehen
konnte. Während über Weihnachten überall in Deutschland Tauwetter herrschte,
braute sich von Norden kommend ein massiver Kälteeinbruch zusammen. Ein
stabiles Hochdruckgebiet über Skandinavien und ein Tiefdruckgebiet über dem
Rheinland stießen über der Ostsee zusammen. Die Katastrophe begann am 28.
Dezember, als es im nördlichen Teil Schleswig-Holsteins im Laufe des Nachmittages
zu schneien begann. Während der Nacht verschärfte sich die Situation, und aus
dem zunächst dichten Schneegestöber, das nach und nach das ganze Land überzog,
wurde ein ausgewachsener Schneesturm, der mit bis zu Windstärke 10 wütete und
fünf Tage lang andauerte. Die Ostsee vor Sassnitz fror innerhalb weniger
Stunden vollständig zu. Meterhohe Schneeverwehungen brachten den Straßen-
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