Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen
Autoren: Willi Fährmann
Vom Netzwerk:
Aquarium mit Goldfischen. Als die Pause anfing, liefen die Kinder auf den Hof.
    Frau John sagte zu Ruth: »Bleib du hier. Ich möchte mit dir reden.« Sie breitete eine weiße Serviette auf dem Pult aus, nahm ihr Pausenbrot aus der Tasche und begann zu frühstücken. »Hast du auch ein Brot mitbekommen?« Ruth schüttelte den Kopf. Frau John brach ihre Schnitte in zwei Teile und gab Ruth eins davon.
    Sie merkte, dass Ruth nicht so recht wusste, was sie tun sollte. »Iss nur«, sagte sie. Dann stellte sie ein paar Fragen, wo Ruth zu Hause sei, aus welcher Familie sie komme, welche Schule sie besucht habe und ob sie gern zur Schule gegangen sei.
    »Ich bin zuletzt gar nicht zur Schule gegangen, weil ja in Oberhausen alle Schulen geschlossen sind. Aber der alte Lehrer Mausberg hatte ein Zimmer bei uns im Haus. Der hat mich jeden Morgen unterrichtet.«
    »Und, hast du was gelernt bei ihm?«
    Ruth nickte. »Er war ein sehr guter Lehrer.«
    »Na, das wollen wir erst mal sehen.«
    Nun stellte sie Ruth Aufgaben aus dem kleinen und großen Einmaleins, fragte nach der Wort- und der Satzlehre, wollte wissen, welche deutschen Ströme in die Nordsee fließen, zeigte schließlich zur Fensterbank und fragte: »Wie heißen die Pflanzen, die dort stehen?«
    Ruth kannte das Fleißige Lieschen und die Clivia. Aber die in die Höhe geschossenen Gewächse, die an Stäben fast bis zum Fensterkreuz hochrankten, waren ihr unbekannt.
    »Diese Pflanzen kennst du auch«, sagte Frau John. »Das sind Stangenbohnen. Die haben zwei Kinder aus dem vierten Jahrgang gepflanzt und messen nun jeden Morgen nach, um wie viele Zentimeter sie in die Höhe geklettert sind.« Sie zeigte auf eine Tabelle an der Seitentafel.
    Als die Klingel zum Pausenende schellte, sagte Frau John: »Du hast nicht übertrieben, Ruth, dieser Herr Mausberg war wirklich ein sehr guter Lehrer. Er hat dir viel beigebracht. Wenn du ihm einen Brief schreibst, bestell ihm einen Gruß von mir. Machst du das?«
    »Das geht nicht«, antwortete Ruth. »Herr Mausberg ist bei dem letzten Bombenangriff in unserem Keller verschüttet worden. Wir haben ihn auf dem Friedhof begraben.«
    Die Kinder kamen zurück in die Klasse. Frau John nahm nun immer mal wieder auch Ruth an die Reihe. Es fiel Ruth leicht, die richtigen Antworten zu geben. Nach dem Unterricht hielt Frau John Ruth für einen Augenblick zurück. Sie blätterte in einem schweren, dicken Buch. Ruth sah, dass zwischen den Seiten getrocknete Blumen lagen. Frau John nahm vorsichtig eine blassblaue Blüte heraus und legte sie in einen Umschlag. Den gab sie dem Kind und sagte: »Herr Mausberg war ein sehr, sehr guter Lehrer. Wenn du deiner Mutter schreibst, dann schick ihr diesen Umschlag mit. Sie soll die Blüte mit einem schönen Gruß von mir auf sein Grab legen.«
    Frau John, die im Unterricht manchmal ziemlich barsch mit den Kindern umging und nie duldete, dass jemand störte, zeigte sich auf einmal von einer ganz anderen Seite. Da wusste Ruth, dass sie für Frau John durchs Feuer gehen würde.
    Die Schlusskonferenz im Quellenhof verlief glimpflicher, als der Direktor befürchtet hatte. Von der Kommission wurde nachdrücklich darauf hingewiesen, dass ausschließlich die Lagermädelführerin für die Nachmittagsveranstaltungen zuständig sei. Sie trüge die Verantwortung dafür. Sie allein. Die Lehrpersonen hätten sich tunlichst nicht einzumischen. Dies war ganz im Sinn von Herrn Aumann. So stand es schließlich in den Vorschriften, über die sich Dr. Scholten so oft hinweggesetzt hatte. Das Wort in der Kommission führte Kurt Ballnigel. Er verlas gegen Ende der Besprechung einige neue Verordnungen. An Weihnachten sollte auf alte germanische Traditionen zurückgegriffen werden. An die Wintersonnenwende sei zu erinnern, die ja auch viel älter und vernünftiger sei als das reaktionäre Christfest. Der Flaggenappell sei ebenso regelmäßig durchzuführen wie auch der Dienst in der Hitlerjugend. Die nationalen Feiertage müssten würdig begangen werden. Und schließlich erinnerte er noch einmal daran, dass die unterschiedlichen Verantwortungsbereiche von Lehrerschaft und Lagerführung unbedingt zu beachten seien. »Ich sagte es ja bereits: Die Lehrerschaft ist nur für den Unterricht am Morgen zuständig.«
    »Gilt das auch für die Wandertage, die wir einmal im Monat durchführen?«, fragte Dr. Scholten.
    »Waren nie erlaubt und werden ab sofort eingestellt.«
    »Wir haben weit über hundert Mädchen in unserem Lager«, warf Frau
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher