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So weit die Wolken ziehen

So weit die Wolken ziehen

Titel: So weit die Wolken ziehen
Autoren: Willi Fährmann
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Kommission wird es hoffentlich gehört haben.
    Esther Salm hatte den Auftrag bekommen, mit Ruth hinunter zur Schule zu gehen. Wenn sie sich sputeten, konnten sie die drei Kilometer in einer halben Stunde schaffen. Zuerst liefen sie stumm nebeneinanderher, doch schließlich fragte Ruth: »Warum bist du nicht im Tannenhaus?«
    »Weil ich bei meiner Mutter wohne. In dem Haus, das da oben am Hang liegt. Das haben wir gemietet.«
    »Stammst du aus dieser Gegend?«
    »Nein. Aber wegen der Bombenangriffe …« Esther verstummte. Es schien ihr unangenehm zu sein, dass Ruth sie ausfragte.
    »Und dann bist du doch in unsere Lagerschule gekommen?«
    »Erst war ich in der Dorfschule. Deshalb weiß ich auch den Weg. Ich bin acht Monate lang jeden Schultag runter- und wieder hochgelaufen. Aber als das vierte Schuljahr zu Ende ging, ist meine Lehrerin Frau John mit mir nach Maria Quell gegangen. Der Weg ist steil und Frau John ist ziemlich alt. Das Atmen fällt ihr schwer. Sie hat mich nach Hause begleitet. Meiner Mutter hat sie vorgeschlagen, ich sollte nach den Osterferien hier oben in die KLV-Schule gehen. Ich habe nämlich gute Noten. Meine Mutter und Frau John sind noch am selben Nachmittag zum Quellenhof gegangen. Direktor Aumann war erst ein paar Tage vorher mit ein paar neuen Schülerinnen aus Oberhausen hier angekommen. Er ist jetzt der Leiter der Schule. Vorher hat Dr. Scholten das gemacht. Frau John hat dem Direktor mein Zeugnis auf den Schreibtisch gelegt. Er hat es durchgesehen und gefragt, warum ich nicht auf eine richtige Oberschule gehe. Aber die nächste ist in der Stadt, fast dreißig Kilometer weg. Ich hätte morgens um sechs von hier wegfahren müssen und wäre erst nach drei am Nachmittag wieder zurückgekommen. Und dann noch der lange Fußweg. Frau John hat gesagt, die KLV-Schule wäre die einzige Möglichkeit für mich, überhaupt eine Oberschule zu besuchen. Der Direktor hat lange überlegt und ich habe schon gedacht, er weist mich zurück, aber dann hat er schließlich zugestimmt. Und jetzt bin ich schon länger als ein halbes Jahr in der fünften Klasse.«
    Esther brachte Ruth in das Schulgebäude neben der Kirche und blieb gleich vor der ersten Tür stehen.
    »Frau Johns Klasse ist immer in diesem Raum«, sagte sie. »Die Lehrerin ist aus Berlin hierher in die Ostmark versetzt worden.« Sie klopfte an und wartete, bis ein Mädchen die Tür öffnete.
    »Ist die Salm und noch eine andere«, rief das Kind in die Klasse hinein und schloss die Tür wieder.
    Es dauerte eine Weile, bis die Lehrerin zu den beiden auf den Flur kam. Frau John war eine kleine, magere Frau. Sie ging gebeugt und hatte einen runden Rücken. Die schwarzen Haare waren straff nach hinten gekämmt und zu einem kleinen Knoten zusammengesteckt. Ihre Haut war von vielen Falten durchzogen. Die schmale, gerade Nase schien ein wenig zu lang zu sein für ihr kleines Gesicht. Aus ihren sanften dunkelbraunen Augen schaute sie freundlich auf die Kinder und gab ihnen die Hand. »Na, Esther, wen bringst du denn da?«
    »Herr Direktor Aumann schickt uns. Ruth Zarski soll hier bis Ostern in die vierte Klasse gehen. Sie wohnt oben im Tannenhaus.«
    »Na, Ruth, dann wollen wir mal sehen, ob sich für dich noch ein Platz findet.« Frau John hatte ihre Hand schon auf die Türklinke gelegt, als sie sich noch einmal zu Esther umdrehte. »Willst du auch noch ein Stündchen in deiner alten Klasse bleiben?«
    »Ich soll bald zurück sein, Frau John.«
    »Kommst du zurecht dort oben?«
    »Schon, Frau John.«
    »Gut. Du hörst, es ist laut wie immer, wenn ich den Raum verlassen habe. Kaum ist die Katze aus dem Haus, dann tanzen die Mäuse auf den Tischen.«
    Sie führte Ruth in das Klassenzimmer. Sofort wurde es still. Lange Schulbänke standen dicht hintereinander. Die ersten reichten bis unmittelbar vor das Pult. Jede Bank hatte Platz für vier Kinder.
    »Das ist Ruth Zarski«, sagte Frau John. »Sie kommt zu den Viertklässlern. Dort, auf den Eckplatz neben Resi, kann sie sich hinsetzen.«
    Ruth schob ihre Schultasche unter die Bank. Sie hatte Zeit, sich umzuschauen. Es fiel ihr nicht schwer, dem Unterricht zu folgen. Sooft sie aber auch aufzeigte, Frau John schien sie zu übersehen.
    Bald hatte sie herausgefunden, dass sich nicht nur die vierte Klasse in dem Raum befand, sondern auch einige Mädchen und Jungen aus den nächsthöheren Klassen. Trotz der Enge war der Raum beinahe wohnlich eingerichtet. Auf dem breiten Fensterbrett standen Blumen und sogar ein
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