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So fühlt sich Leben an (German Edition)

So fühlt sich Leben an (German Edition)

Titel: So fühlt sich Leben an (German Edition)
Autoren: Hagen Stoll
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durch eine selbst gefertigte Geburtsurkunde, die mein Onkel und meine Tante den glücklichen Eltern anschließend überreichten: » Am heutigen Tage, dem 29.Januar1975, gelang es den Menschen Edelgard und Walter Stoll, ihr Erstlingswerk zu produzieren…« Etwas in dieser Art, mit einem roten Wachssiegel versehen und beglaubigt. Die Urkunde hängt immer noch bei meinen Eltern; ein Erbstück, auf das ich ziemlich scharf bin.
    Gewohnt haben wir damals in der Wichertstraße49 im Bezirk Prenzlauer Berg. Es war die erste Berliner Adresse meiner Eltern. Denn nach ihrer Herkunft sind sie Mecklenburger– mein Vater Walter wuchs in einem Dorf namens Luplow auf und meine Mutter Edelgard in dem Örtchen namens Tarnow, das eine nicht weit vom anderen entfernt und beide von Neubrandenburg in zwanzig Minuten zu erreichen. Weil sie vorankommen wollten, zogen sie vom Land in die Hauptstadt, nach Ostberlin, landeten im Prenzlauer Berg und richteten sich dort in einer Studentenbude auf vierunddreißig Quadratmetern ein. Altbau, Kohleofen, Fenster zum Innenhof, wenig Licht, etwas anderes als die weitläufigen Felder ihrer Jugend und etwas kümmerlicher als die Bauernhöfe, von denen sie kamen. Egal. Der Schritt in die Großstadt versprach ein besseres Leben.
    Mein Vater hatte es mit dem Militär. Nach der vormilitärischen Ausbildung in der Gesellschaft für Sport und Technik ( GST ) war er zum Wehrdienst in der NVA eingezogen worden und hatte eine Laufbahn bei der Luftwaffe angestrebt. Aus den Bomben und Raketen und russischen Kampfjets, die seine Erzählungen für mich als Kind so spannend machten, wurde aber nichts. Stattdessen verschlug es ihn zum Zoll. Anders gesagt: Als ich so weit war, dass ich mir ein erstes Bild von der Welt machen konnte, war mein Vater bereits Grenzer. Grenzsoldat. An der Marschallbrücke über die Spree stationiert, nur hundertfünfzig Meter Luftlinie vom Reichstag entfernt, also an vorderster Front. Dort kontrollierte er im Schichtdienst jeden Kahn, der unser Binnengewässer befuhr, bei der Einreise nach Ostberlin wie bei der Ausreise nach Westberlin. Mit anderen Worten, nämlich den Worten meines Vaters: Er beschützte unser Land und wehrte den Feind im Westen ab, der sich alles Erdenkliche einfallen ließ, um in unsere heile, sozialistische Welt einzubrechen.
    Gut, das war jetzt nicht die Luftwaffe, aber schlecht war es auch nicht.
    Nicht unbedingt wegen der Mauer, dem Stacheldraht und den Suchscheinwerfern, aber wegen seiner Uniform, seiner Dienstwaffe in ihrem Halfter an seinem Gürtel und ganz besonders wegen seiner Hunde. Wenn ich ihn ab und zu an seinem Arbeitsplatz besuchte, faszinierte mich nichts mehr als diese Hunde in ihrem Zwinger. Und ich muss sagen: Da wurde einem schon anders. Die konnten einem Angst machen. Die tiefschwarzen Riesenschnauzer, die bulligen Rottweiler und die Deutschen Schäferhunde, all diese kläffenden, hechelnden, wutgeladenen Vierbeiner, die nur darauf warteten, dem nächsten Kapitalisten den Arsch aufzureißen. Manchmal fuhr ich in dem Barkas mit, einem Ost-Lieferwagen, in dem die Hunde von einem Grenzposten zum anderen verfrachtet wurden, dann stießen sie knurrend vor ungehemmter Aggressivität ihre Schnauzen durch den Spalt unter der Sitzbank. Und jedes Mal, wenn ein Schiff unter der Marschallbrücke festmachte, hieß es für meinen Vater: Mit einem dieser Hunde an Bord gehen, alles durchsuchen und Eindringlinge aufspüren. Also– mein Vater hatte eine Aufgabe, mein Vater hatte Befugnisse, mein Vater war ein Held.
    In gewisser Weise war auch meine Mutter eine Heldin. Aber ihr Heldentum war von anderer Art. Sie stand nämlich als leitende OP -Schwester am Operationstisch im Krankenhaus Friedrichshain, Hals-Nasen-Ohren-Abteilung, reichte den Ärzten Skalpell und Tupfer an und sah tagaus, tagein Blut. Für mich eine gruselige Vorstellung, aber für sie die selbstverständlichste Sache der Welt. Eine Heldin aber auch deswegen, weil ich sie in all dem Ärger, den ich mit meinem Vater im Lauf der Zeit bekam, auf meiner Seite wusste. Diese eher verträumte, in sich gekehrte Frau hat mir jederzeit meine Freiheit gelassen, obwohl sie Angst um mich hatte. » Pass bloß auf«, hat sie gesagt, als ich später meine Graffiti machte und nächtelang an der Wand stand, » lass dich nicht erwischen.« Und ich habe aufgepasst, ich habe mich nicht erwischen lassen. Ihre Worte habe ich mir gern zu Herzen genommen. Sie hat viel mehr bei mir bewirkt als mein Vater mit seinem
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