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So fühlt sich Leben an (German Edition)

So fühlt sich Leben an (German Edition)

Titel: So fühlt sich Leben an (German Edition)
Autoren: Hagen Stoll
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-Rad, und mit diesem Geschoss war ich unterwegs. Draufsetzen, in die Pedale treten und nach hinten kieken, auf den Reifen, wie der Dreck wegspritzt, das war mein Ding. Ist heute noch so. Gerade habe ich bei meinem Motorrad hinten eine Autofelge einsetzen lassen, da kommt ein 210er Reifen drauf, das ist ein ziemlicher Latschen, und jetzt freue ich mich auf die erste Tour. Da kann ich wieder nach hinten kieken und zusehen, wie’s nach den Seiten wegspritzt.
    Ich habe nie aufgehört zu spielen. Als mich vor vier Jahren ein Freund aus Miami anrief und sagte: » Mensch, ich habe da einen Chevrolet Caprice, Baujahr 1994, Top-Zustand, und du hast doch immer einen Ami gesucht…«, da gab’s kein Zögern. Wenig später wurde mein Chevy in Bremerhaven abgeladen, von dort nach Finsterwalde überführt, und ich habe zu meinem Vater gesagt: » Kuje (Kurzfassung von Papuschkuje, russische Koseform für Vater), kommste mit? Ich muss mir den Wagen unbedingt angucken.« Ich weiß noch, wie ich in Finsterwalde mit meinem Vater in dessen Auto saß, und das Ding bog um die Ecke. Es hörte gar nicht mehr auf. Ein Schiff, sechs Meter lang. Mit 20-Zoll-Chromfelgen und blubberndem V 8-Motor. Da konnte ich nicht mehr. Da hatte sich mir ein Traum erfüllt. Und dieser Traum reichte weit in meine allerfrühsten Marzahner Tage zurück.
    Es war nämlich so, dass über uns im zehnten Stock Jens Seifert wohnte, kurz Seife genannt. Der war drei Jahre älter als ich, gab sich aber mit mir ab, und in der Regel sah das so aus, dass er von seinem Balkon irgendein Spielzeug an einer Kordel runterließ. Ich nahm es auf unserem Balkon ab, verknotete irgendein anderes Teil in seine Kordel, und immer war es furchtbar spannend, was als Nächstes daherkommen würde. Oft war es Westspielzeug, und eines Tages baumelte an seiner Kordel ein Matchbox-Auto von unbeschreiblicher Detailtreue und Präzision. Ein Mercedes W126. Die S-Klasse. Ich war fassungslos. Dergleichen hätte ich für unmöglich gehalten. Matchbox-Autos gab es im Osten nicht, und ich saß tagelang auf meinem fliegenden Teppich, bestaunte meinen Mercedes und baute eigens für ihn Sprungschanzen aus Büchern.
    Erstaunlicherweise tauchten nun immer mehr Matchbox-Autos auf, wahrscheinlich auf dem Postweg eingeschleust, in Westpaketen versteckt, und bald entwickelte sich ein florierender Tauschmarkt am Fuß der Sandhaufen von Marzahn. Alle waren plötzlich im Matchbox-Fieber. Meine Kumpel hätten sich für ein Matchbox-Auto von Haus und Hof getrennt, wenn es in ihrer Macht gestanden hätte, ich aber entwickelte mich in der neuen Disziplin zu einem wahren Meister.
    Es gab ein Modell, das ich unbedingt haben musste. Unbedingt. Niemals hätte ich meine S-Klasse dafür hergegeben, damit habe ich andere nicht mal spielen lassen, die gehörte mir, aber mein allergrößter Traum, der Gegenstand meines allerhöchsten Entzückens, hieß Chevrolet Caprice– das Auto, mit dem die Polizisten in Amerika rumfuhren. Einmal hatte ich einen in die Finger bekommen. Auf der Unterseite der Matchbox-Autos standen jeweils Typ und Marke, und daher wusste ich: Aha, Chevrolet Caprice Station Wagon, so lautet die korrekte Bezeichnung deines Traums. Ich habe dann tatsächlich den Triumph erlebt, einem Kumpel dieses Auto abzuhandeln, gegen lächerliche zwei Radiergummis und noch irgendwas. Seither standen zwei Dinge für mich fest: Irgendwann würde ich mir einen echten S-Klasse-Mercedes zulegen. Und irgendwann einen echten Chevrolet Caprice… Seife war übrigens kein Freund. Ich kann mich nicht entsinnen, je mit ihm draußen gespielt zu haben. Wir betrieben unsere Tauschbörse von Balkon zu Balkon, und auf dem Schulhof hat er mich das eine oder andere Mal verteidigt: » Ey, lasst den in Ruhe. Der wohnt unter uns.« Aber im Prinzip war unsere Beziehung rein virtueller Natur.
    Das lag nicht nur an ihm. Ich war schon damals Einzelgänger. Ich hatte Spielkameraden, ich hatte Kumpel wie Uwe, aber Freunde hatte ich nicht. Keinen, zu dem ich nach dem Kindergarten, nach der Schule hingegangen wäre. Ich beobachte das heute auch an meinem Sohn. Ich gucke ihn an und sehe mich. Wenn er spielt, ist er weg. Ich spreche ihn an– aber er ist weg, in seiner Traumwelt. Genauso war ich auch. Ich brauchte eigentlich niemanden zum Spielen. Ein Teamsport wäre für mich zum Beispiel nie infrage gekommen. Fußball oder Ähnliches wäre für mich die Hölle gewesen, weil ich immer den Eindruck gehabt hätte, die anderen setzen sich nicht voll
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