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So fühlt sich Leben an (German Edition)

So fühlt sich Leben an (German Edition)

Titel: So fühlt sich Leben an (German Edition)
Autoren: Hagen Stoll
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mir gefallen, dieses raue, stachlige Vaterkinn; daran erinnere ich mich. Die Stoppeln machten einen anderen Menschen aus ihm. Da war er mir plötzlich nah.
    Früher oder später aber vermisste ich meine Platte. Eher früher. In Schildow schon nach drei Stunden.
    Dort hatten meine Eltern neuerdings eine Parzelle, einen Garten mit selbst gezimmerter Laube, und da wurden jetzt die Wochenenden verbracht. Na gut, ausschlafen, sich die Sonne auf den Bauch scheinen lassen, das hätte ja noch was für sich gehabt, aber meine beiden Alten dachten gar nicht daran, die absolvierten nach fünf anstrengenden Arbeitstagen in Berlin ein Hardcore-Gartenprogramm in Schildow und waren die Hektik in zwei Personen. » Ich kann mich nicht nach euch richten«– Kunstpause–, » ich hab zu tun«, sagte mein Vater, und dann hantierte er rum, grub, sägte, harkte, bastelte, nahm seinen Lada auseinander oder schraubte an anderer Leute Trabis rum oder machte irgendwas kaputt, um es anschließend zu reparieren. Mein Vater war eine Koryphäe auf diesem Gebiet. Und jeden Abend Besuch, Freunde, mit denen man auf der kleinen Terrasse vor unserer Laube saß und aufgekratzt über die neue Saat fachsimpelte. Unfassbar, dieser Aktionismus. Kuje besorgte mir zum Glück ein altertümliches Moped– im Grunde ein Fahrrad, das knatterte und sich dabei nicht viel anders anhörte als mein erstes Bambirad mit den Skatkarten zwischen den Speichen–, und damit verwandelten sich sämtliche Feldwege von Schildow in eine einzige Rennstrecke. Dann und wann benutzte mein Vater es auch als Maulwurf- oder Rattentöter, indem er einen Gartenschlauch an den Auspuff montierte und das andere Ende in ein Loch im Boden steckte. Dann durfte ich Gas geben, das Motörchen heulte auf, und ich war glücklich.
    Das war bald nicht mehr oft der Fall. Denn inzwischen waren wir in turbulentes Fahrwasser geraten, mein Vater und ich. Irgendwann, mit neun oder zehn Jahren, habe ich beim Umkleiden vor und nach dem Schwimmunterricht lieber gewartet, bis alle anderen fertig waren, damit mein grün und blau geschlagener Po nicht auffiel. Das brauchte keiner zu wissen, die Blöße wollte ich mir nicht geben. (Gleichzeitig habe ich immer gehofft, dass mich jemand darauf anspricht, aber dazu kam es nie.) In den meisten Fällen hing mein lädierter Po mit meinen schulischen Leistungen zusammen, obwohl ich als Schüler durchaus meine großen Momente hatte.
    Meine Aufsätze waren gut. Mit Worten konnte ich umgehen. Mein Aufsatz über den Ungarnurlaub mit meinen Eltern wurde sogar prämiert und in der Schule ausgehängt. Ich hatte darin meine Bilder aus Budapest verarbeitet, noch ganz beeindruckt von den Reklametafeln und den vielen Lichtern– ich kannte diese Art von Städten ja nicht, Budapest sah damals nämlich schon beinahe so aus, wie ich Westberlin später erlebt habe, nachdem die Mauer offen war. Und weil ich mit Worten umgehen konnte und außerdem künstlerisch begabt war, wurde ich in der sechsten Klasse gefragt, ob ich Agitator werden wollte. Mit anderen Worten: Ich sollte die Propagandaabteilung meiner Klasse übernehmen und das Brett mit der Wandzeitung im Klassenzimmer allwöchentlich neu gestalten. Also Zeitungsausschnitte sammeln, Schlagzeilen ausschneiden und Collagen zusammenstellen– » Unser Erich Honecker, für Frieden und Sozialismus…«, » Wir sind stolz auf die Aktivisten der ersten Stunde…«, in diesem Stil. War ich dabei. Hab ich zur Zufriedenheit des ideologisch maßgeblichen Personals erledigt.
    Nur einmal bin ich angeeckt– mit meinem Bauarbeiterbild. Marzahn war ja nach wie vor im Aufbau, und diesmal sollten wir uns von unserer Umgebung inspirieren lassen und Bauarbeiter malen. Gut, habe ich Bauarbeiter gemalt und das Bild, weil’s so schön war, zwischen die Zeitungsausschnitte an die Wandtafel gehängt. Und tierischen Ärger bekommen, weil die Bauarbeiter auf meinem Bild allesamt ein mürrisches Gesicht hatten. Da lachte keiner. Der Fall schlug solche Wellen, dass ich zum Direktor gerufen wurde.
    Er: » Sag mal, Hagen, was fällt dir ein, Bauarbeiter zu malen, die so ’n Gesicht ziehen?«
    Ich: » Die gucken halt so. Ich sehe hier draußen keinen Bauarbeiter, der lacht.«
    Er: » Ja, aber die können sich doch auch mal freuen.«
    Ich: » Die freuen sich aber nicht. Die saufen den ganzen Tag Bier, pfeifen meiner Mutter hinterher und haben schlechte Laune.«
    Er: » Na, jedenfalls können wir das so nicht machen. Wir können für die Wandzeitung keine
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