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So fühlt sich Leben an (German Edition)

So fühlt sich Leben an (German Edition)

Titel: So fühlt sich Leben an (German Edition)
Autoren: Hagen Stoll
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Ziegelmauern, in den Ritzen grün von Flechten oder Moos, und am Rand des Platzes die Fleischerei Genz. Eine meiner Anlaufstellen in Marzahn, seit jeher. Bezugsquelle der besten Rouladen, der leckersten und größten Schnitzel weit und breit. Und prompt sehe ich mich da stehen, ein kleiner Bengel mit einer Wiener in der Hand. Strahlend vor Glück, weil er das Würstchen gerade geschenkt bekommen hat.
    Man kennt mich hier. Nicht wie an der Kasse im Supermarkt, wo die Leute mich ansprechen, weil sie mich vom Plattencover wiedererkennen. Sondern als einen von ihnen. Draußen vor dem Schaufenster mit den Wurst- und Fleischauslagen kommt es zu einem Schwätzchen von Tisch zu Tisch. » Wir haben letzte Woche deinen Auftritt beim Promi-Dinner gesehen.« Ich hatte Rouladen gemacht. Sie stammten von Genz in Alt-Marzahn. An den Rouladen lag es jedoch nicht, dass ich nicht besser abgeschnitten habe.
    So fühlt sich Zuhause an. So sieht Kindheit aus. Plattenbauten, so weit das Auge reicht, dazwischen, aus einer anderen Zeit, eine Kirche, eine Dorfstraße, eine Fleischerei. Sogar die alte Windmühle auf ihrer Anhöhe außerhalb des Dorfes haben sie stehen gelassen. Und etwas weiter die Landsberger Allee hoch, Richtung Blumenberger Damm, hat das erste befreite Haus Berlins jede Wende überdauert. Das erste Haus, das d ie R ote Armee bei ihrem Vormarsch auf Berlin 1945 erreichte.
    Marzahn.
    Grundlegende Erfahrungen habe ich hier gemacht. Erfahrungen wie Angst haben, wie Mut beweisen, wie tapfer sein. Heranwachsen, das ist Actionfilm, Horrorfilm und Komödie in einem. Das größte Vergnügen, der größte Schrecken dicht beieinander. Wenn der Regen sie nicht weggewaschen hat, sieht man noch die Bremsspuren auf dem Blumenberger Damm, die das Ende einer Verfolgungsjagd markieren– ich in meinem Bertone und hinter mir dreimal Blaulicht. Unter einer der steinernen Tischtennisplatten im Hinterhof habe ich mit zwölf oder dreizehn die erste Zigarette geraucht, höchstwahrscheinlich eine Kenton blau– » Stasi-Zigarette« haben wir damals dazu gesagt, weil man » Kenton« auch wie » Keen Ton« lesen kann. An der Giebelseite einer Platte steht die Bank, von der mich ein Glatzkopf mit der Keule runtergeknüppelt hat– das Geräusch, wenn Metall auf Schädelknochen trifft, habe ich heute noch im Ohr. Wie eh und je liegt der Springpfuhl-Tümpel da in seinem Park– ein Sumpfloch für den unvoreingenommenen Betrachter, für mich als Springpfuhlpirat seinerzeit die Sieben Weltmeere. Und gleich dahinter der Helene-Weigel-Platz, nett gestaltet mit Springbrunnen und Bronzefiguren– damals Aufmarschplatz der Neonazis und Austragungsort der wüstesten Massenprügelei, die ich je erlebt habe.
    Manches ist verschwunden. So wie die Trabis, nach Feierabend auf einer Linie entlang der Plattenbauten aufgereiht, hellgelbe, hellblaue, hellgrüne Farbkleckse im Einheitsgrau. Oder Adolf auf seinem Balkon vor dem Schulgelände, der so hieß, weil er stundenlang Hitlerreden rezitierte. Oder Frau Paschulke, die Stasibeauftragte unserer Platte am Murtzaner Ring, bald nach der Wende abgetaucht. Aber für mich ist Marzahn nach wie vor der Ort meiner Kindheit, meiner Jugend, an den ich gern zurückkehre. Denn egal, wie deine Kindheit war, wo sie sich abgespielt hat, wer dir das Leben dort leicht oder schwer gemacht hat– dieser Ort hat dir den Stoff geliefert, an dem du ein Leben lang kaust und würgst, von dem du aber auch ein Leben lang zehrst. Marzahn war mit diesem Stoff besonders freigebig.
    So kam es zu mir. Hagen Stoll.
    Hagen. Ein üblicher Name war das nicht. Die Vorliebe für ausgefallene Namen war im Osten allerdings verbreitet– Torsten, Sven, Kardo und eben Hagen. Ich sollte mich wohl einzigartig fühlen. Aber weder mein Vater noch meine Mutter hatten irgendwelche Ambitionen in Richtung deutsche Sagen. Erst in der Schule kam die Sprache auf die Nibelungen, erst da wurde mir klar, dass es einen Hagen von Tronje gibt. Ein Finsterling, aber unerschrocken, kühn. Obwohl er’s am Ende verkackt hat. Ich habe jedenfalls nie ein Problem mit diesem Namen gehabt, im Gegenteil. Ich finde ihn gut. Ich war immer stolz auf ihn. Ich habe mich auch oft wie Hagen von Tronje gefühlt.
    Geboren bin ich aber nicht in Marzahn. Als ich zur Welt kam, existierte der Ort wahrscheinlich gerade mal auf dem Reißbrett. Geboren bin ich, als erstes und einziges Kind meiner Eltern, am 29.Januar1975 im Krankenhaus Friedrichshain. Das Ereignis ist unwiderlegbar bezeugt, und zwar
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