Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
So fühlt sich Leben an (German Edition)

So fühlt sich Leben an (German Edition)

Titel: So fühlt sich Leben an (German Edition)
Autoren: Hagen Stoll
Vom Netzwerk:
kategorischen Nein.
    Sie war es auch, die mich in den Arm nahm, die mich lobte, die mich tröstete, und Trost war bald gefragt, denn Klein-Hagen war nicht perfekt geraten. Ich hatte X-Beine. Aber was für welche… Also mussten, als ich vier war, Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Die kleinen X-Beine kamen nachts in Schalen, um ihre Kniegelenke einzurenken. Sie wurden in diesen Blechschalen fixiert und auseinandergedrückt. Die Geradebiegerei tat weh, und solange sie dauerte– drei Jahre mindestens–, war an Umdrehen im Bett oder bequemes Liegen nicht zu denken. Mutter Edelgard kämpfte als Trösterin an vorderster Front.
    Trotzdem habe ich oft geweint. Meine Knie schmerzten, und außerdem ging’s dreimal die Woche zum orthopädischen Unterricht. Ich hatte das Gefühl, neu laufen lernen zu müssen. Also das Ganze wieder von vorn, und zwischendurch immer mal auf einem alten Brett mit Rollen drunter in der Turnhalle durch die Gegend gedüst. Ich wollte laufen, aber auf dem Rollbrett musste ich knien; auch das war schmerzhaft, aber es ging wohl ums Gleichgewicht. Jedenfalls kam meine Mutter schon wieder in ihrer Hauptrolle zum Einsatz. Trotzdem war es auch lustig, mit all den Kindern, die mit von der Partie waren, meinen Leidens- und Spaßgenossen. Ganz so lustig wie auf meinem neuen Rädchen unterwegs zu sein fand ich’s aber dann doch nicht.
    Es war ein ultrakrasses Bambirad, und ich war stolz wie Bolle. Aufgemotzt mit allerhand Plüschdraht und Fähnchen und Federn und Karten vom Skatspiel meiner Eltern, die mit Wäscheklammern so an Rahmen und Gabel befestigt waren, dass sie die Speichen streiften und beim Fahren ein rennwagenmäßiges Motorengeräusch erzeugten. Toll. Fahrradfahren war meine Leidenschaft. Irgendwann hat mein Vater die Stützräder hochgebogen, und siehe da, es ging auch ohne. Derartig motorisiert war ich der Knaller auf den Straßen und Plätzen rings um den Ostbahnhof, die Sensation von Friedrichshain.
    Inzwischen waren wir nämlich umgezogen.
    Die düstere Studentenbude in der Wichertstraße war nicht das Passende für die kleine Familie Stoll. Bilder aus dieser Zeit sind bei mir nicht hängen geblieben. Allenfalls der Märchenbrunnen, den meine Mutter gelegentlich ansteuerte, wenn sie mich im Kinderwagen spazieren fuhr, aber der kann sich auch aus ihren Erzählungen bei mir eingeschlichen haben. Ich glaube, ich habe mich damals um nüscht dergleichen gekümmert, in der Anfangszeit sind einem andere Dinge wichtiger. Jedenfalls ging es von der Wichertstraße49 in die Straße der Pariser Kommune13 im Bezirk Friedrichshain, und zwar in einen regelrechten Wolkenkratzer, eine Platte, wie sie im Buche steht, mit einundzwanzig Stockwerken fast so hoch wie der Fernsehturm, unglaublich. Die fünfundvierzig Quadratmeter Wohnfläche stellten zwar nur einen bescheidenen Geländegewinn dar, aber bei dem phänomenalen Ausblick über die Stadt wirkte das Ganze gleich viel größer.
    Ich hatte sowieso Glück. Mein Vater funktionierte nämlich die Abstellkammer zum Elternschlafzimmer um und quetschte ein Ehebett hinein, damit der Sohnemann ein Zimmer für sich allein hatte. Und jetzt erinnere ich mich gut: Auf diesen vier mal vier Metern habe ich mir mein eigenes, grenzenloses Reich zusammengeträumt, ungestört von irgendwelchen Geschwistern, ich war ja Einzelkind. Die Mitte des Raums zierte ein dicker Teppich, von meiner Mutter selbst geknüpft; auf dem saß ich, spielte mit meinen Autos und hob ab, flog davon, flog, wann immer ich wollte, wie der kleine Muck über die Dächer der Stadt und immer weiter, denn es war ein fliegender Teppich. Ein handgeknüpfter, fliegender Teppich, blau mit orangefarbenen Blättern und mit einem grünen OP -Tuch aus der Friedrichshainer Hals-Nasen-Ohren-Klinik auf der Unterseite. Wer weiß, ob ich je abgehoben hätte, wenn ich die Abstellkammer bekommen hätte? Im Nachhinein denke ich: War ja nicht selbstverständlich. War richtig nett von meinem Vater.
    Ich war also rundum zufrieden. Zufrieden mit meinem gelben, ferngesteuerten Auto, einem Chevy oder Dodge (aus Polen oder der Tschechoslowakei), der gar nicht ferngesteuert war, sich aber über eine Schnur, die hinten rauskam, immerhin lenken ließ. Zufrieden aber auch mit dem ganzen Rest. Mit Papas Aquarium im Wohnzimmer, in dem sich Guppys und Scalare tummelten– oft saß ich davor und schaute den Fischen einfach nur beim Schwimmen zu, während der Wasserfilter blubberte. Mit dem Badezimmer, das eine Wanne besaß, obwohl es
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher