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So bitterkalt

So bitterkalt

Titel: So bitterkalt
Autoren: Johan Theorin
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ein Grab gegraben, aber dann haben sie den Jungen frei gelassen ... bevor sie sich gemeinsam vom Felsen stürzten.«
    Das wissen alle bereits, aber sie schweigen schockiert. Andreas sieht völlig bestürzt aus, und Hanna hofft, dass ihr eigener Blick ebenso entsetzt wirkt.
    Â»Wie geht es dem kleinen Leo?«, fragt Marie-Louise.
    Â»Der Junge ist unverletzt. An viel erinnert er sich nicht, und das ist vielleicht auch gut so«, erwidert Högsmed. »Leo weiß nur noch, dass jemand auf den Hof gekommen ist und ihn von hinten am Arm gepackt hat, als er auf der Schaukel saß. Der Arzt hat in seiner Armbeuge einen Einstich gefunden, man kann also davon ausgehen, dass ihm eine Droge verabreicht wurde. Doch es geht ihm, wie gesagt, den Umständen entsprechend gut.«
    Hanna ballt unterm Tisch die Fäuste. Was hat Leo der Polizei erzählt? Wie weit erinnert er sich an das, was in der Dunkelheit auf dem Felsen geschehen ist? Er war betäubt und trug eine Augenbinde, also wird er sich ja wohl zumindest nicht an sie erinnern, oder? Aber wenn Jan das Bewusstsein wiedererlangt, wird er dann sprechen können? Und wird ihm jemand Glauben schenken?
    Sie beugt sich vor: »Mir fällt da etwas ein.«
    Alle sehen sie an.
    Â»Jan Hauger hat mir einmal etwas erzählt, und ich weiß ja nicht, ob es von Bedeutung ist, aber er hat gesagt, dass er einmal auf einem Tagesstättenausflug einen Jungen mit in den Wald genommen und ihn dort draußen zurückgelassen hat.«
    Â»Wirklich?«, fragt Högsmed überrascht.
    Marie-Louise sieht Hanna eindringlich an. »Davon hättest du mir aber berichten müssen.«
    Â»Ich weiß. Aber ich dachte, er hätte nur einen merkwürdigen Witz gemacht. Er wirkte schließlich so vertrauenswürdig. Alle mochten ihn. So war es doch, oder?«
    Högsmed sieht sie an und räuspert sich. »Was ich jetzt sage, ist eigentlich vertraulich: Die Polizei war an diesem Wochenende bei Hauger in der Wohnung. Sie haben alles durchsucht und eine ganze Reihe zweifelhafter Dinge gefunden. Unter anderem hat er eine lange Comicserie mit groben Gewaltszenen und Rachephantasien gezeichnet. Und einer von Haugers Nachbarn hat früher hier in der Klinik gearbeitet, und den hat er offensichtlich über verschiedene Fluchtwege ausgefragt.«
    Es kehrt wieder Stille ein, und Hanna senkt den Kopf. »Der arme Jan«, sagt sie leise.
    Die anderen sehen sie an. Sie begegnet ihren Blicken.
    Â»Ich meine, er hätte doch Hilfe gebraucht. Wir hätten aufmerksamer sein sollen.«
    Â»Antisoziale Störungen sind sehr schwer zu erkennen«, erklärt Högsmed. Er sieht in seine Unterlagen.
    Â»Haben Sie vielen Dank, Herr Doktor«, sagt Marie-Louise. Dann faltet sie die Hände und lächelt ihre Angestellten Hanna und Andreas an. »Ihr habt sicher noch Fragen, aber um die können wir uns später kümmern. Wir müssen nach vorn schauen, schließlich kommen bald die Kinder.«
    Hanna steht auf. Sie tut so, als wäre das hier ein gewöhnlicher Arbeitstag.
    Und es ist schließlich auch ein gewöhnlicher Arbeitstag, ein Tag am Beginn des langen Winters. Alles ist ganz normal, wenn man einmal davon absieht, dass Jan und Ivan weg sind und dass Lilian krankgeschrieben ist.
    Hanna verlässt den Raum und hört die Eingangstür.
    Die Kinder, denkt sie und macht sich bereit. Die kleine Josefine ist in die »Lichtung« gekommen, sie trägt einen dicken dunkelgrünen Schneeanzug und hat ihre Pflegemutter im Schlepptau. Josefine grinst Hanna breit an, sie hat noch einen Zahn im Oberkiefer verloren.
    Â»Es schneit!«, ruft sie.
    Â»Ehrlich?«, fragt Hanna.
    Sie sieht aus dem Fenster. Richtig. Dicke weiße Schneeflocken schweben durch die Luft. Vielleicht wird der Schnee diesmal etwas länger liegen bleiben.
    Â»Gut«, sagt sie und lächelt Josefine an. »Dann können wir, wenn die anderen Kinder kommen, ja rausgehen und im Schnee spielen und Schneeengel machen. Aber bis dahin kannst du noch ein bisschen ins Spielzimmer gehen.«
    Josefine zieht den dicken Overall aus und verschwindet in der Vorschule.
    Hanna entspannt sich.
    Â»Entschuldigung«, fragt da eine Stimme hinter ihr, »haben Sie hier ein paar handgemalte Bücher gesehen?«
    Sie dreht sich um.
    Â»Wie bitte?«
    Hanna begreift, dass Josefines Pflegemutter sie angesprochen hat. Die Frau ist um die dreißig und steht, eine graue
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