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Skorpion

Skorpion

Titel: Skorpion
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ein elektrischer Strom.
    Einmal, bei einem Abstecher nach Europa, besuchte sie das Museo della Sindone in Turin und sah das gequälte Abbild auf dem Tuch, das sie dort aufbewahren. Sie stand in der Dunkelheit auf der anderen Seite des kugelsicheren Glases, umgeben vom ehrfürchtigen Gemurmel der Gläubigen. Obwohl sie selbst nie eine Gläubige war, in keinerlei Hinsicht, war Larsen dennoch seltsam berührt von dem harten, hohlwangigen Gesicht, das sie aus der versiegelten Vakuumkammer anstarrte. Es erschien ihr wie ein Zeugnis des menschlichen Leidens an sich, das seine göttlichen Ansprüche völlig torpedierte, das die Verehrung, die ihm entgegengebracht wurde, absolut nebensächlich erscheinen ließ. Beim Betrachten dieses Antlitzes traf einen die schiere, starrsinnige Überlebensfähigkeit des organischen Seins wie ein Schlag, das Erbe des inhärenten, dem gesunden Menschenverstand hohnsprechenden Trotzes, mit dem man auf dem langen Marsch die Evolution hinauf ausgestattet worden war.
    Es könnte gut und gern derselbe Mann sein. Hier, jetzt.
    Er hat sich gegen einen hohen Eckschrank gestützt und starrt sie an. Sehnen wie Stricke an den Armen, die vor einem hageren Brustkorb verschränkt sind, dessen Rippen sie sogar durch sein T-Shirt erkennen kann. Langes, glattes Haar hängt zu beiden Seiten eines schmalen Gesichts herab, das Schmerz und Mangel sogar noch hagerer erscheinen lassen. Den Mund hat er zu einem festen Strich zusammengepresst, er sieht aus wie eine Kerbe zwischen dem scharf ausgeprägten Kinn und der schmalen, knochigen Nase. Seine Wangen sind tief eingefallen.
    Ihr Herz wallt träge in ihrer Brust auf, als sie seinem Blick begegnet.
    »Ist es…« Und zusammen mit diesen Worten keimt in ihr jetzt gleichermaßen ein Verständnis, ein ungeheuerliches Wiedererkennen, dem ihr Bewusstsein mit höchster Geschwindigkeit entfliehen will. »Ist es mein Knie? Das Bein?«
    Von irgendwoher findet sie jäh die Kraft und richtet sich auf den Ellbogen auf, und sie zwingt sich hinzuschauen.
    Der Anblick prallt mit der Erinnerung zusammen.
    Ein schrilles Gekreisch entreißt sich ihr, durchdringt kurz das Spinnennetz, das die Drogen über ihr System gewebt haben. Sie kann nicht wissen, wie schwach es sich in den kalten Dimensionen der Chirurgie anhört. Ihr selbst scheint es das Trommelfell zu zerreißen, und in dem Wissen, das sie zugleich überkommt, wird ihr schwarz vor Augen, und es droht, sie in sich aufzusaugen. Sie kreischt nicht wegen dem, was sie sieht, das weiß sie genau:
    Nicht wegen des sauber verbundenen Stumpfs, wo ihr rechter Oberschenkel zwanzig Zentimeter unterhalb der Hüfte endet; nicht deswegen.
    Nicht wegen der bohrenden Erkenntnis, dass der Schmerz in ihrem Knie ein Phantomschmerz in einer Gliedmaße ist, die sie nicht mehr besitzt; nicht deswegen.
    Sie kreischt wegen der Erinnerung.
    Der Erinnerung an die Fahrt in der Trage einen stillen Korridor entlang, an das sanfte Stoßen und die Wendung hinein in den OP, und dann, verschleiert vom Drogennebel, das anschwellende Jaulen des Sägeblattes, das Knirschen, als es auf den Knochen trifft, und das leise, schmatzende Zischen des kauterisierenden Lasers, das darauf folgt. Wegen der Erinnerung an das letzte Mal und wegen der übelkeitserregenden, auf sie einstürzenden Erkenntnis, dass das alles erneut geschehen würde.
    »Nein!«, sagt sie heiser. »Bitte!«
    Lange Finger einer Hand legen sich warm auf ihre Stirn. Das Turiner Gesicht auf dem Leichentuch ragt über ihr auf.
    »Pschschscht… der Kormoran weiß den Grund…«
    Neben dem Gesicht erkennt sie eine Bewegung. Sie erkennt sie aus der Erinnerung daran, wofür sie steht. Die verstohlenen, spinnenbeinartigen Bewegungen des Autochirurgen, wenn er erwacht.
    Glänzender Stahl…



 
Mehr als alles andere haben die harten Lektionen dieses Jahrhunderts uns gelehrt, dass es einer konsequenten Überwachung sowie effektiven Beschränkung bedarf und dass das hierzu erforderliche politische System mit einer untadeligen Integrität und Unterstützung handeln muss.
    Jacobsen-Report, August 2091

 
1
     
     
    Am Ende fand er Gray in einem Mars-Präpcamp in Peru gleich hinter der Grenze zu Bolivien, wo er sich hinter einem bisschen billiger Gesichtschirurgie und dem Namen Rodriguez versteckte. An und für sich war es keine schlechte Tarnung und wäre einer Standardüberprüfung vielleicht entgangen. Sicherheitschecks in den Präpcamps waren notorisch lax, und in Wahrheit war es ihnen dort ziemlich
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