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Singularität

Singularität

Titel: Singularität
Autoren: Charles Stross
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direkt oberhalb der den Gezeiten
ausgesetzten Flussmündung der Vis errichtet worden; nur der
Basilisk, der auf einem Ausläufer erodierten vulkanischen
Granitgesteins vor sich hin brütete, ragte deutlich sichtbar aus
der Ebene hervor. Bei der Durchquerung des Tieflands würde der
Zug deshalb auch nur einen einzigen Antrieb aktivieren müssen.
Der zweite Reaktor würde erst in kritischen Zustand versetzt
werden, wenn das Vorgebirge der Apenninen erreicht war, des
Gebirgszugs, der die Halbinsel von dem inneren Festland New Austrias
trennte. Danach würde der Zug auf schnurgeradem Weg durch die
neunhundert Kilometer lange Wüste brausen und sechs Stunden
später am Fuß des Raumhafens Klamowka halten.
    Die Szenerie, die sich den Augen bot, war so ungewöhnlich,
dass Martin sie mit kaum verhüllter Ehrfurcht anstarrte. Obwohl
er es nicht gern zugab, hatte er etwas von einem Touristen an sich,
denn er suchte ständig nach Spuren ursprünglicher
Schönheit, in der er insgeheim schwelgen konnte. Auf der Erde
gab es nichts mehr, das dieser Landschaft ähnelte. Die
Schussfahrt durch das zwanzigste Jahrhundert und die Ereignisse, die
auf die Singularität – das einzigartige Geschehen, das
alles verändern sollte – im einundzwanzigsten Jahrhundert
gefolgt waren, hatten die Landschaft jedes industrialisierten Staates
entstellt. Selbst nachdem die Bevölkerungsdichte schlagartig
abgenommen hatte, konnte man nirgendwo mehr offene ländliche
Gebiete samt Bauernhöfen, Hecken und sorgfältig angelegten
Dörfern finden – jedenfalls nicht, ohne gleichzeitig auf
Einwegbahnen, Kuppelbauten, gefährliche Stellen mit radioaktivem
Niederschlag und die verrückten kleinen Erdhügel, Spuren
der Endzeit-Architektur, zu stoßen.
    Die Landschaft der Niederungen, die der Eilzug auf seinem Weg
über die Halbinsel durchquerte, ähnelte einem England vor
der nachindustriellen Epoche; es war die idyllische Landschaft eines
Traums, in dem die Züge pünktlich fuhren und die Sonne im
Weltreich Großbritannien niemals unterging.
    Aber Bahnfahrten verlieren schnell an Reiz, und nach einer halben
Stunde raste der Zug mit so hoher Geschwindigkeit durch die
Täler, dass man nur noch einen nebelhaften Eindruck von Stahl
und Messing hatte. Also wandte sich Martin wieder seinem Lesestoff zu
und vertiefte sich so hinein, dass er kaum merkte, wie sich die
Tür öffnete und wieder schloss – bis eine Frau, die er
noch nie gesehen hatte, ihm gegenüber Platz nahm und sich
räusperte.
    »Entschuldigung«, sagte er und sah auf. »Sind Sie
sicher, dass das hier Ihr Abteil ist?«
    Sie nickte. »Ziemlich sicher, danke der Nachfrage. Ich habe
kein Einzelabteil verlangt, Sie etwa?«
    »Ich dachte…«, er kramte in seinem Jackett nach der
Fahrkarte. »Ah, jetzt verstehe ich.« Insgeheim den
Empfangschef verfluchend, schaltete er das Notebook aus und sah sie
an. »Ich dachte, ich hätte ein Einzelabteil reserviert,
aber jetzt sehe ich, dass ich mich geirrt habe. Bitte entschuldigen
Sie.«
    Die Frau nickte gnädig. Sie hatte langes schwarzes Haar, das
zu einem Knoten geschlungen war, hohe Backenknochen und braune Augen.
Ihr dunkelblaues Kleid wirkte gemessen an dem, was in dieser
Gesellschaft üblich war, in seiner schlichten Art elegant und
teuer. Wahrscheinlich eine Hausfrau aus der Mittelschicht, dachte Martin; allerdings schaffte er es noch immer nicht ganz,
den gesellschaftlichen Status eines Menschen in der Neuen Republik
auf Anhieb einzuschätzen. Er hätte nicht einmal sagen
können, wie alt sie war: Das dick aufgetragene Make-up, das enge
Mieder, die sich bauschenden Röcke und Puffärmel –
neueste Mode der Hauptstadt – boten eine wirkungsvolle
Verkleidung.
    »Fahren Sie weit?«, fragte sie munter.
    »Ganz bis nach Klamowka, zum Marinestützpunkt, und von
dort mit dem Fahrstuhl ins All«, erwiderte er, verblüfft
über das offene Verhör.
    »Welch ein Zufall, da fahre ich auch hin. Entschuldigen Sie,
aber gehe ich recht in der Annahme, dass Sie kein Einheimischer aus
dieser Gegend sind?«
    Sie sah ihn interessiert an, so interessiert, dass Martin es als
irritierend aufdringlich empfand. Er zuckte mit den Achseln.
»Stimmt.« Er klappte das Notebook wieder auf und versuchte,
sich darin zu vergraben, aber seine unerwünschte
Reisegefährtin hatte anderes mit ihm vor.
    »Aus Ihrem Akzent schließe ich, dass Sie auch nicht von
diesem Planeten stammen. Und Sie sind zu den Werften der
Admiralität unterwegs. Darf ich fragen, was Sie dort zu
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